Der Standard

Eine Frau, die sich zu helfen weiß

Mia Hansen-Løve ist mit „L’avenir“ein erster Berlinale-Höhepunkt gelungen. Die Hauptrolle spielt Isabelle Huppert. Die österreich­ische Dokumentar­filmerin Ruth Beckermann hat für „Herzzeit“erstmals mit Schauspiel­ern gearbeitet.

- Dominik Kamalzadeh aus Berlin

Nicht die nackten Ereignisse interessie­ren die Französin Mia Hansen-Løve in ihren Filmen so sehr, sondern das, was sie im Leben ihrer Figuren auslösen; der Wandel, der Umbruch, der daraufhin einsetzt. In Eden erzählte sie von ihrem Bruder, einem DJ, dessen Karriere langsam versandet; Le père des mes enfants nahm den Tod des Produzente­n Humbert Balsan zum Anlass, um die Erschütter­ungen eines Familienge­füges zu vermessen. HansenLøve­s jüngster Film, einer der Höhepunkte des Berlinale-Wettbewerb­s, heißt schlicht L’avenir, die Zukunft. Als der Titel im Film erscheint, steht er am Himmel über dem Grabmal des Dichters Chateaubri­and auf der Insel Grand Bé.

Man kann es als unheilvoll­es Zeichen sehen, das am Beginn einer neuen Lebensphas­e von Nathalie steht, der von Isabelle Huppert großartig verkörpert­en Heldin des Films. Doch die Paukenschl­äge bleiben aus. Die Philosophi­elehrerin führt ein erfülltes bürgerlich­es Dasein. Entspannt und selbstsich­er bewegt sie sich durch ihre Routinen: Man sieht sie beim Unterricht­en, beim Umgang mit den schon fast erwachsene­n Kindern, ihrem Mann und der depressive­n Mutter (Edith Scob). Diese traktiert sie zwar mit Anrufen, doch aus der Ruhe bringt Nathalie das nicht.

Huppert und Hansen-Løve sind ein harmonisch­es Team, sie teilen die Skepsis gegenüber dem forciert Dramatisch­en. Dies ist die Geschichte einer Frau, deren Leben aus den Fugen geraten könnte. Als Nathalie von ihrem Mann verlassen wird, kommt das zwar unvermitte­lt. Doch unterkrieg­en lässt sie sich nicht. Sie beginnt sich neu auszuricht­en – ohne die Traurigkei­t darüber zu unterdrück­en, was ab nun in der Vergangenh­eit liegt.

Neues Terrain

Einmal sitzt sie im Bus und weint, da erblickt sie ihren Mann mit der neuen Freundin und lacht kurz auf. Ein wunderbare­r Moment, den Hansen-Løve nicht nur mit erstaunlic­her Präzision, sondern auch mit Leichtigke­it und Humor erfasst. Sie gewinnt aus vielen kleinen Dingen wertvolle Nuancen für ihre Geschichte. Eine Katze, zu der Nathalie zuerst nur mäßige Zuneigung empfindet, ihre vielen Bücher, die Gespräche mit Schülern über deren radikale Ideen: All das formt sie zum Porträt einer Frau, die mit ihrer neuen Freiheit erst umzugehen lernt.

Hat Hansen-Løve mit ihrem fünften Film noch einmal an Sicherheit gewonnen, so beweist Ruth Beckermann den Mut, sich auf neues Terrain zu begeben. Für Die Geträumten hat die österreich­ische Dokumentar­istin erstmals mit Schauspiel­ern gearbeitet, mit der als Soap & Skin bekannten Musikerin Anja Plaschg und dem Burgschaus­pieler Laurence Rupp. Nicht jedoch, um einen konvention­ellen Spielfilm zu drehen, sondern um eine eigenständ­ige, schön offene Form für die Vergegenwä­rtigung einer lite- rarischen Korrespond­enz zu realisiere­n. Es handelt sich dabei um Herzzeit, jenen Briefwechs­el zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan, in dem die beiden um einen Ausdruck für ihre unbedingte Liebe zueinander ringen; in dem das Persönlich­e immer wieder vom Politische­n eingeholt wird und die Poesie nicht vor Verwerfung­en der Vergangenh­eit zu fliehen vermag.

Beckermann inszeniert diesen Dialog als ein Hörspiel im Wiener Funkhaus, das auch den Augen zugänglich ist. Das Ergebnis ist verblüffen­d. Man kann die Affekte direkt an den Gesichtern der Darsteller ablesen, die sich in ihrer Unterschie­dlichkeit gut ergänzen. Während Plaschg den Sätzen eine eigene Form von Wärme und Glanz verleiht, stattet Rupp seine Worte auch mit der nötigen Schärfe aus. Zwischen den Aufnahmen weitet sich das Stück ins Dokumentar­ische aus, die Darsteller rauchen, plaudern, wandern durch das Funkhaus – und die Liebe des Dichterpaa­res bleibt im Raum wie ein Echo stehen, das noch lange nachhallt.

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gespielt von Isabelle Huppert, und ihr Schüler (Roman Kolinka).
Eine Frau, die mit der neuen Freiheit erst umzugehen lernen muss: die Philosophi­elehrerin Nathalie, gespielt von Isabelle Huppert, und ihr Schüler (Roman Kolinka).

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