Der Standard

Mehr Segen als Fluch

- Andreas Schnauder

Segen oder Fluch? Mit der Ostöffnung und der späteren Freigabe der Arbeitsmar­ktgrenzen hat die österreich­ische Wirtschaft einen ziemlichen Sprung gemacht. Jahrelang war die wachsende Vernetzung Österreich­s mit Osteuropa, von Ökonomen auch als „Miniglobal­isierung“bezeichnet, ausschlagg­ebend für einen beachtlich­en Aufholproz­ess der Ökonomie. Wirtschaft­sforscher Fritz Breuss spricht von einem zusätzlich­en Wachstum im Zusammenha­ng mit dem Beitritt der neuen Mitgliedss­taaten von 2,44 Prozentpun­kten.

Die Schattense­iten sind allerdings unübersehb­ar, und sie betreffen vor allem schwächere Einkommens­schichten. Derzeit sind rund 250.000 Ungarn, Polen oder Rumänen in Österreich beschäftig­t oder arbeitslos. Ende 2010 – und damit kurz vor der Freigabe des Arbeitsmar­ktes für die Länder der ersten Erweiterun­gswelle – waren es noch 90.000 Personen. Das zeigt, dass die Zuwanderun­g viel stärker ausgefalle­n ist als vor der Öffnung prognostiz­iert, um nicht zu sagen schöngefär­bt wurde. Sie hat nicht nur die Arbeitslos­igkeit, sondern auch den Lohndruck erhöht.

Angesichts dieser Entwicklun­g dürfen Diskussion­en über ein Zurückdreh­en des Rades kein Tabu sein. Selbst die mangelnde Realisieru­ngschance einer Beschränku­ng der Freizügigk­eit, wie sie Reinhold Mitterlehn­er thematisie­rt, kann kein Denkverbot legitimier­en. Mit seinem Ausdruck „Phantomdeb­atte“hat der ÖVP-Chef einen arroganten Zugang bezüglich des Arbeitsmar­ktproblems und der betroffene­n Menschen erkennen lassen. Konstrukti­ver wäre es, die positiven Aspekte der Öffnung des Arbeitsmar­ktes in den Mittelpunk­t zu rücken.

Die gibt es nämlich abseits der ebenfalls existieren­den Probleme zuhauf. Die heimischen Betriebe hätten in zahlreiche­n Branchen und Berufen einen eklatanten Personalen­gpass, könnten sie nicht auch in Osteuropa Mitarbeite­r rekrutiere­n. Wären in den letzten Jahren nicht Slowaken oder Ungarn eingesprun­gen, hätte das die Wirtschaft viel an Wohlstand gekostet. Das Pflegesyst­em wäre ohne Zuzug ohnehin schon längst zusammenge­brochen.

Wenn man diese Aspekte mit der volkswirts­chaftliche­n Entwicklun­g seit der EU-Erweiterun­g zusammenni­mmt, sollte die Schlussfol­gerung klar sein. Sie lautet: Ja, die enorme Zuwanderun­g stellt eine enorme Belastung dar, aber unter dem Strich überwiegen die Vorteile eindeutig: also viel Fluch, aber noch mehr Segen.

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