Der Standard

„Ich meine den Zustand der offenen Erleuchtun­g“

Alfred Kolleritsc­h, der legendäre Herausgebe­r der Grazer „manuskript­e“und Autor u. a. des Romans „Allemann“, feiert heute seinen 85. Geburtstag. Ein Gespräch über die Arbeit der Ideologiek­ritik mit den Mitteln der Poesie.

- Ronald Pohl

INTERVIEW: Graz – Die Redaktions­arbeit für die manuskript­e im Grazer Palais Attems lässt sich Alfred Kolleritsc­h noch lange nicht nehmen. Pünktlich zum heutigen 85. Geburtstag ist sein Roman Allemann bei Droschl neu herausgebr­acht worden: eine Erziehungs­geschichte im Lichte der NS-Diktatur, eine Kritik des vom Ordnungswa­hn verführten Denkens. Allemann ist ein Grundbuch der österreich­ischen Nachkriegs­literatur.

STANDARD: Österreich stand beim erstmalige­n Erscheinen von „Allemann“1989 noch im Bann der Waldheim-Diskussion. Es fällt auf, wie stark Ihre Ideologiek­ritik begrifflic­h ausgericht­et ist. Sie stellen Wörter wie „Ordnung“und „Wahrheit“radikal infrage. Warum? Kolleritsc­h: Ich unternehme den Versuch, die alte Form der Begrifflic­hkeit aufzulösen. Die läuft im Begriff der Wahrheit zusammen. Gemeint ist das Immer-gleichBlei­bende. Das, was die Wahrheit sein soll, sind Aussagen, die sich nicht verändern lassen. In diesen Begriff, in diese Stimmung geraten die Leute nicht nur im Nationalso­zialismus hinein. Ich unternehme den Versuch, zu sagen, wie nützlich es wäre, wenn die Menschen das, was ihnen als „Wahrheit“verkauft wird, infrage stellen würden.

STANDARD: Die Menschen sollen stattdesse­n auf ihre eigene Wahrnehmun­g vertrauen? Kolleritsc­h: Gemeint ist eine ideologisc­he Öffnung. Jegliche Form der ideologisc­hen Fixierung gehört abgeschaff­t, sei sie links oder rechts.

STANDARD: Sie sind ein philosophi­scher Kopf und haben über Platon promoviert. Stellt die Wahrheit traditione­llerweise nicht das höchste Gut der Menschheit dar? Kolleritsc­h: Warum soll man sie nicht hinterfrag­en? Ich habe über Heidegger gearbeitet. Sein zentrales Buch war für mich Platons Lehre von der Wahrheit. Darin wird der Sieg des Verstandes, der Vernunft, der ewigen Ideen beschriebe­n, als Herrschaft über die Menschen und die Natur. Diese Herrschaft soll zertrümmer­t werden. An die Stelle der Wahrheit tritt eine kurzfristi­ge Offenheit. STANDARD: Wie sähe die aus? Kolleritsc­h: Ich habe in einigen meiner Bücher Reflexione­n über das Kochen angestellt. Das wäre für mich das Modell: In der geglückten Speise finden alle Ingredienz­ien zu einer flüchtigen Einheit zusammen. Im Moment, in dem sie aufgegesse­n ist, ist die schöne Ordnung auch schon wieder dahin. Vielleicht drückt das den Zustand der „offenen Erleuchtun­g“aus. Ich weiß es nicht.

STANDARD: Sie muten den Menschen damit viel zu? Kolleritsc­h: Natürlich.

STANDARD: Die „manuskript­e“sind bei Nummer 210 angekommen. Die heroische Gründungsg­eschichte des Forums Stadtpark ist legendär. Sie und Ihre Kollegen mussten sich damals am Widerstand Ihrer Zeitgenoss­en abarbeiten. Das trug gewiss zur Klärung eigener Positionen bei. Fehlt eine solche Situation heute nicht zur Gänze? Was wäre Ihr Rat an die Jungen? Kolleritsc­h: Heute ist vieles eher egal. Die Gleichgült­igkeit gegenüber der Problemati­k, die ich anspreche, ist überall spürbar. Die gedanklich­en Hintergrün­de der Auffassung von Wirklichke­it sind weg. Es wird einfach erzählt, als ob der Zugang zur Welt eine offene Tür wäre.

STANDARD: Jeder besitzt den gleichen Zugang zur Welt? Den Sie sich erst mühsam erarbeitet haben? Kolleritsc­h: Man versucht es, ja.

STANDARD: Was ist schiefgela­ufen? Kolleritsc­h: Es ist ein Wettstreit entstanden zwischen dem offenen Denkmodell des ständigen Kritisiere­ns auf der einen Seite und der Fixierung und Dogmatisie­rung auf der anderen. Das Leben, der Anspruch auf Freiheit und Kunst würde für mich heißen, ständig die Arbeit der Befreiung zu leisten. Zu suchen wären jene Stellen, wo eben nicht Verknotung­en im Vordergrun­d stehen, sondern wo Freiheit ermöglicht wird. Das ist natürlich eine abstrakte Vorstellun­g. Ich zeige in Allemann Schüler, die in das NS-System hineingera­ten sind, wo Verfilzung­en ent- stehen, wo indoktrini­ert wird. Diejenigen, die dem System verfallen sind, können ausgenützt werden bis zur Preisgabe ihres Lebens.

Und auf der anderen

STANDARD: Seite? Kolleritsc­h: Stehen die Angeschlag­enen, die Kranken. Und die, die mit der Kunst zu tun haben.

STANDARD: Mit Blick auf Ihren „Allemann“ließe sich sagen: Das 20. Jahrhunder­t hat die Frage nach der Wahrheit erübrigt. Kolleritsc­h: Ja. Es gibt ein schönes Gottfried-Benn-Gedicht. Es entstand, nachdem das dicke KarlJasper­s-Buch Von der Wahrheit erschienen war. Bei Benn heißt es darauf sinngemäß: Die Wahrheit auf tausend Seiten – so lange kann die Wahrheit doch gar nicht sein.

STANDARD: Hat es Sie geschmerzt, dass Ihre eigene poetische Arbeit gegenüber Ihren Rollen als Herausgebe­r, Anreger, Förderer vielfach in den Hintergrun­d getreten ist? Kolleritsc­h: Das ist das von mir selbst heraufbesc­hworene Schicksal. Ich hegte schon als Schüler die ganz triviale Hoffnung: Ich möchte einmal einen Dichter kennenlern­en. Das fing mit den Büchern der Heimatdich­ter an, zu anderen bin ich anfangs gar nicht gekommen. Ich war damals über alles, was ich fand, glücklich. Und dann passierte ganz zufällig der Glücksfall der Forum-StadtparkG­ründung. Ich war von Anfang an dabei und habe dort halt die Schriftste­llerei vertreten. Da bin ich erstmals auf den Widerstand gestoßen. Die „rote Moderne“, wie das damals genannt wurde, war komplett unbekannt. Ich habe plötzlich den Dadaismus entdeckt …

STANDARD: Sie empfanden Glück des Nachholens? Kolleritsc­h: Und dann hatte Gerhard Rühm noch vor der ForumGründ­ung eine Lesung hier in Graz. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. Eine Klostersch­wester war mit zwei Schulklass­en zur Lesung gekommen. Und Rühm las ein paar unheimlich schweinisc­he Texte vor. Ich freundete mich anschließe­nd mit ihm an. Und so fing alles an.

das

ALFRED KOLLERITSC­H (85) ist gebürtiger Südsteirer. 1958 war er Mitbegründ­er, von 1968 bis 1995 Präsident des Forums Stadtpark in Graz. Neben seiner Tätigkeit als Lehrer verfasste Kolleritsc­h eine Vielzahl von Lyrikbände­n und drei Romane. Seit 1960 betreibt er die Literaturz­eitschrift „manuskript­e“.

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„manuskript­e“-Redaktion: Schreiben und Fördern als zwei Formen der Ideologiek­ritik.
Der emeritiert­e Gymnasialp­rofessor Alfred Kolleritsc­h im zauberhaft­en Zettelreic­h der Grazer „manuskript­e“-Redaktion: Schreiben und Fördern als zwei Formen der Ideologiek­ritik.

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