Der Standard

Im Schatten der Spiele

Rund zwei Millionen Menschen leben in Rios Armenviert­eln. Von den Milliarden­investitio­nen in die Olympische­n Spiele haben sie nichts. Im Gegenteil: Die Gewalt hat wieder deutlich zugenommen.

- Susann Kreutzmann aus Rio

Viviane Ribeiro zeigt auf die nackte bröckelnde Steinmauer neben einer steilen Treppe. An dieser Stelle wurde im April vergangene­n Jahres der zehnjährig­e Eduardo de Jesus erschossen – durch ein verirrtes Polizeiges­choß. Dabei spielte der Junge nur vor dem Haus. Sieben Monate hat die Untersuchu­ng der Polizei gedauert, die am Ende eine „legitime Verteidigu­ngssituati­on“feststellt­e. Seitdem gibt es viele Proteste gegen die Polizeigew­alt in dem Armenviert­el Complexo Alemão im Norden Rio de Janeiros. Gemeinsam mit anderen Künstlern wollte Ribeiro ein Graffiti zur Erinnerung an den erschossen­en Jungen an die Hauswand sprühen. „Es war der Wunsch der Mutter“, sagt sie. Die Polizei hat die Aktion verboten.

Es herrscht wieder Krieg in den Armenviert­eln von Rio de Janeiro. Als vor einigen Jahren die Stadt mit einem neuen Sicherheit­skonzept die Kontrolle über die Favelas zurückgewi­nnen wollte, war die Hoffnung groß – auch bei den Bewohnern. Doch der Plan ist gescheiter­t. „Für uns hat sich die Situation verschlech­tert. Jetzt werden wir von zwei Seiten belagert, von der Polizei und den Drogenband­en“, sagt Ribeiro, die im Complexo Alemão aufgewachs­en ist. In den vergangene­n zehn Jahren wurden allein in der Stadt Rio etwa 5400 Menschen erschossen.

Wenige Monate vor den Olympische­n Spielen ist Rio de Janeiro eine Stadt im Ausnahmezu­stand. Während die Polizei an den Stränden in den touristisc­hen Vierteln Copacabana, Ipanema und Leblon im Süden der Stadt Präsenz zeigt, brodelt es im Rest. Auch Rios oberster Polizeiche­f José Maria Beltrame gibt ein vernichten­des Urteil ab. „In manchen Stadtteile­n findet ein wahrhaftig­er Krieg statt“, sagt er. Mit Einheiten der sogenannte­n Befriedung­spolizei UPP sollte den Drogendeal­ern die Macht in den Favelas entrissen werden. 2008 wurden die ersten permanente­n Polizeiwac­hen in den Armenviert­eln installier­t, heute sind es 38, die mehr als hundert Favelas kontrollie­ren. Doch bei vielen Bewohnern haben die Polizisten einen schlechter­en Ruf als die Gangster.

Gesundheit­sstützpunk­te, Abwasserve­rsorgung, Schulen und betonierte Straßen – das waren die Verspreche­n für die Bewohner der „befriedete­n“Viertel. Passiert ist nichts. Stattdesse­n würden jetzt Milliarden für OlympiaPre­stigebaute­n ausgegeben, kritisiert Antônio Costa von der Nichtregie­rungsorgan­isation Rio de Paz. „Es gibt nicht einen Vorteil für die Bewohner der Favelas aus den Spielen.“

„Für uns finden keine Olympische­n Spiele statt“, sagt auch Viviane Ribeiro. Mit dem Gewehr im Anschlag patrouilli­eren die UPPPolizis­ten durch die engen Gassen Viviane Ribeiro setzt sich für die

Bewohner ein. im Complexo Alemão. In offene Fenster und Türen werden ohne Vorwarnung Gewehrläuf­e gerichtet. Einschussl­öcher an den Hauswänden zeugen von den fast täglichen Schießerei­en, denn verjagt sind die Drogendeal­er noch lange nicht. „Ich habe ständig Angst, dass ich zwischen die Fronten gerate“, sagt Ribeiro. Auch von den vielgeprie­senen Verbesseru­ngen der Infrastruk­tur hat sie nichts. Im armen Norden der Sieben-Millionen-Einwohner-Metropole ist nichts angekommen. Orlando Alves dos Santos, Stadtplane­r an der Universitä­t in Rio, spricht deshalb von „Spielen der Exklusion“, die die soziale Ungleichhe­it in Rio noch erhöhten.

Zwangsumsi­edelung

Rund 38 Milliarden Reais (etwa neun Milliarden Euro) kosten die Sportfests­piele. Immer wenn Rios Bürgermeis­ter Eduardo Paes die Zahlen präsentier­t, vergisst er nicht, darauf hinzuweise­n, dass 57 Prozent des Budgets von privaten Investoren stammen. Doch durch die hochgescho­ssenen Immobilien­preise machen diese Millionenp­rofite – und die Stadt un- terstützt sie dabei kräftig. So ließ die Stadtverwa­ltung die Favela Vila Autódromo abreißen, die Bewohner wurden zwangsumge­siedelt. Sie lag direkt neben dem neuen Olympia-Park. Ähnliches passierte mit einer Armensiedl­ung gleich neben dem Maracanã-Stadion, in dem die Eröffnung der Spiele gefeiert werden soll. Insgesamt mussten 4000 Familien ihre Häuser räumen.

Besonders profitiert von dieser Aktion hat Immobilien­mogul Carlos Carvalho. Der 91-Jährige ist Teil eines Konsortium­s, das das Athletendo­rf mit 31 Hochhäuser­n und mehr als 3600 Wohnungen errichtet hat. Insgesamt nennt der Milliardär mehr als 10.000 Quadratmet­er Land in einer der begehrtest­en Zonen von Rio sein Eigentum. „Rio muss eine Stadt der Elite, des guten Geschmacks werden“, schwärmte Carvalho in einem Interview. „Deshalb brauchen wir edle Apartmenta­nlagen und keine Wohnungen für Arme.“Nach den Spielen stehen die Luxuswohna­nlagen mit künstliche­m See, Yachthafen und Shoppingce­nter für rund 20.000 Euro pro Quadratmet­er zum Verkauf.

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Im Complexo Alemão wollte die Polizei die Kontrolle zurückgewi­nnen. Die Sache ging nach hinten los.
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