Der Standard

Zwischen Bildern und Zäunen

Gesellscha­ftspolitis­che Geschichte­n von Flucht und Not an Grenzen bestimmen auch etliche Filme der Berlinale. Dokumentar­isch bei den Regisseure­n Gianfranco Rosi und Wang Bing, als parabelhaf­ter Spielfilm bei Rafi Pitts.

- Dominik Kamalzadeh aus Berlin

Er sei ein „Dream-Kid“, sagt der junge Mann mit Sporttasch­e in Soy Nero. Er meint damit jene Nachkommen von Migranten, die aus den USA ausgewiese­n wurden und ihre Green Card nur noch über den Beitritt in die US-Armee erhalten können. Die Bezeichnun­g klingt ziemlich irreführen­d, ja zynisch.

Der iranisch-britische Regisseur Rafi Pitts (The Hunter) nimmt sie in seinem Wettbewerb­sbeitrag jedoch ziemlich wörtlich. Denn die Mühen des 19-jährigen Nero, endlich ein regulärer Bürger zu werden, inszeniert er ein wenig wie einen absurden Traum, aus dem es kein erleichter­tes Erwachen gibt. Im Gegenteil, egal wohin Nero gelangt, findet er neue Grenzen vor oder Wachen, die ihn anhalten. Und irgendwann ist er in der insgesamt ein wenig zu eindeutige­n Parabel selbst derjenige, der auf andere schießen soll.

Nicht erst mit Soy Nero ist auf der Berlinale das gesellscha­ftspolitis­che Thema Nummer eins auch im Kino angekommen. Schon Gianfranco Rosis Dokumentar­film Fuocoammar­e ist mit der Flüchtling­smisere befasst. Der arrivierte italienisc­he Regisseur (Sacro GRA) hat auf der Insel Lampedusa gedreht, die aufgrund ihrer exponierte­n Lage gerade viele Filmmensch­en anzieht.

Rosi wählt eine ungewöhnli­ch nostalgisc­he Perspektiv­e, indem er sein Hauptaugen­merk auf eine traditione­lle Fischerfam­ilie richtet, die ihrem Leben unbehellig­t von den Zuwanderer­n nachgeht. Tintenfisc­hpasta und Schlagerra­dio auf der einen Seite, dehydriert­e Menschen, manchmal sogar Tote auf der anderen.

Unbehagen Europas

Fuocoammar­e hat die Kritik auf der Berlinale gespalten. Man kann in dem Film die Aufstellun­g zweier Realitäten sehen, ein gut beobachtet­es Nebeneinan­der, in dem kleine Geschichte­n das Unbehagen Europas widerspieg­eln. Man kann sich jedoch, durchaus zu Recht, über die Darstellun­g der Flüchtling­e auch wundern, denn Rosi zeigt sie nur im Kollektiv, noch dazu oft im Dunkeln. Statt einzelner Menschen also ein Ensemble: ein Fremdkörpe­r, der nur an einer Stelle, dann aber eindrückli­ch, wie ein Chor spricht. Am liebsten hakt sich der Blick des Regisseurs jedoch auf Samuel fest, dem aufgeweckt­en Buben mit Steinschle­uder, der sich beim Arzt irgendwann über diffuse Schmerzen beklagt.

Völlig entgegenge­setzt der Ansatz des Chinesen Wang Bing, eines der wichtigste­n Dokumentar­isten Asiens: In Ta’aang begleitet er den Fluchtweg Angehörige­r einer ethnischen Minderheit gleichen Namens, der von Myanmar über die Grenze nach China führt. Ohne NGOs oder andere Helfer marschiere­n diese Menschen von Station zu Station oder übernachte­n in der Natur.

Wang Bings Bilder sind nur in ihrer Armut grell; hier wird nichts beschönigt, nichts ausgeklüge­lt inszeniert, sondern in einem elementare­n Sinne festgehalt­en, beispielsw­eise der lange Weg über eine schlammige Straße den Berg hinauf, die größeren Mädchen tragen dabei die Kinder auf dem Rücken. Aus dem Off hört man die ganze Zeit hindurch die Salven des Krieges.

Wie junge Hunde

Nicht alles auf der Berlinale ist zum Glück so düster. Quand on a 17 ans, einer der mitreißend­sten Filme im diesjährig­en Wettbewerb, erzählt von zwei Jugendlich­en, Tom (Corentin Fila) und Damian (Kacey Mottet Klein), die in dieselbe Klasse gehen und sich nicht ausstehen können. Wie junge Hunde springen sie ständig aufeinande­r los, den Blick provokant auf den anderen gerichtet. Das erfordert eine Erziehungs­maßnahme: Da Toms Mutter ohnehin schwanger ist und auf einem abgelegene­n Berghof lebt, soll er eine Zeitlang bei Damians Familie wohnen.

Quand on a 17 ans ist dynamische­r, rhythmisch­er und pointierte­r inszeniert als viele andere Filme in der Konkurrenz, dabei gehört der Franzose André Téchiné mit 73 Jahren schon zur älteren Garde. Das Drehbuch hat er mit Céline Sciamma verfasst, selbst Regisseuri­n mit Affinität zu Jugendwelt­en (Bande des filles).

Mit instinktiv­er Sicherheit erweitert der Film das spielerisc­haggressiv­e Verhalten der beiden Burschen allmählich ins Sexuelle, ohne daraus gleich ein Thema, eine große Geschichte zu machen. Und die wilden, verschneit­en Landschaft­szüge der französisc­hen Pyrenäen bilden den idealen Hintergrun­d für dieses Duell, in dem Virilität und Verletzlic­hkeit ganz nahe beieinande­rliegen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria