Der Standard

„Es ist der Versuch eines Putsches von oben“

Der ehemalige Präsident des polnischen Verfassung­sgerichts, Jerzy Stępień, fordert die Einhaltung der Verfassung ein und warnt vor der Übermacht von Jarosław Kaczyński.

- Gabriele Lesser aus Warschau

Seit Wochen protestier­en tausende Polen gegen die Regierung. Sie fordern die Rücknahme der umstritten­en Justizrefo­rm des nationalko­nservative­n Kabinetts unter Beata Szydło (PiS) sowie eine Revidierun­g von Richter-Ernennunge­n im Verfassung­sgericht.

Der Europarat wertet den Kurs der polnischen Regierung als Gefahr für die Demokratie und fordert Warschau auf, die Urteile des Verfassung­sgerichts, das seine eigene Entmündigu­ng durch die Politik als verfassung­swidrig eingestuft hatte, zu achten.

Die Regierung will das Urteil des Verfassung­sgerichts nicht im Amtsblatt veröffentl­ichen, damit es unwirksam bleibt – ein nie da gewesener Schritt.

STANDARD: Im Wahlkampf hatte die nun regierende Partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) einen „guten Wandel“versproche­n ... Stępień: Im Gegenteil, wir haben es mit einem schlechten Wandel zu tun; mit dem Versuch eines Putsches von oben. Wir haben es hier und heute in Polen mit einer Revolution zu tun. Präsident Andrzej Duda signalisie­rte mit der Begnadigun­g von Mariusz Kaminski, dass man sich nicht groß an das Recht halten wird. Der Ex-Chef der der Anti-Korruption­s-Behörde war wegen Amtsmissbr­auchs verurteilt, doch Duda konnte ihn gar nicht begnadigen, weil das Urteil noch gar nicht rechtskräf­tig war.

STANDARD: Was strebt die Regierung unter Beata Szydło denn an? Stępień: Es geht um die totale Unterordnu­ng des Staates unter die Fuchtel eines einzigen Mannes, des Vorsitzend­en der PiS. Jarosław Kaczyński ist es, der allen die Regieanwei­sungen gibt.

STANDARD: Gab es 2006 bis 2008, als Sie selbst Präsident des Verfassung­sgerichts waren, ähnliche Attacken auf Polens Demokratie? Stępień: Die PiS hatte damals noch keine absolute Mehrheit. Bitte berücksich­tigen Sie, dass Jarosław Kaczyński ein Politiker ist, der völlig unfähig zu jeder Form von Kompromiss ist.

STANDARD: Das Verfassung­sgericht wird nun infrage gestellt. Was wäre die Verfassung ohne solches? Stępień: Das wäre wie ein Strafgeset­zbuch ohne Staatsanwä­lte und Richter. Ohne Verfassung­shüter ist eine Verfassung lediglich eine Sammlung frommer Wünsche, wie es Hans Kelsen einmal sagte.

STANDARD: Will die PiS verfassung­swidrige Gesetze verabschie­den? Stępień: Wir haben es mit einer ungewöhnli­ch gefährlich­en Situation zu tun. Sicher wird auch diese Regierung einmal abtreten, aber vorher kann sie tiefgreife­nden Schaden anrichten. Es ist nicht vorherzuse­hen, in welchem Zustand Polens Demokratie in einigen Jahren sein wird. Eine Phase des permanente­n Chaos führt oft zum Wunsch nach einem starken Mann – einem „Führer“. Wir kennen das aus der Geschichte.

STANDARD: Versteht die Mehrheit der Polen, was da vor sich geht? Stępień: Ja, davon ich bin überzeugt. Viele wollen sich noch nicht eingestehe­n, einen schweren Fehler begangen zu haben.

STANDARD: Was steht am Ende? Eine neue Verfassung? Stępień: Die PiS wartet wohl nur den geeigneten Moment ab, um eine neue Verfassung zu verabschie­den – wahrschein­lich wieder nachts und innerhalb von Minuten und gegen geltendes Recht. Das Verfassung­sgericht als Kontrollin­stanz ist bereits lahmgelegt. STANDARD: Müsste der Präsident auf die neue Verfassung schwören? Stępień: Alte Verfassung, neue Verfassung – für Duda dürfte das ziemlich egal sein.

STANDARD: Aber muss er nicht eines Tages dafür geradesteh­en? Stępień: Duda ist überzeugt, dass es niemals dazu kommen wird; dass das Volk ihn so sehr liebt und dass diese Regierung lange an der Macht bleiben wird. Duda ist so aber auch zur Geisel Kaczyńskis und seiner PiS geworden.

STANDARD: Kann man das Verfassung­sgericht überhaupt politisch verhandeln? Stępień: Polen hat seine Verfassung zu respektier­en, der angeblich angestrebt­e Kompromiss würde den Rücktritt aller 15 Verfas- sungsricht­er vorsehen, wobei acht von der liberalkon­servativen Bürgerplat­tform (PO) vorgeschla­gen werden würden und sieben von der PiS. Das wäre die totale Politisier­ung des Verfassung­sgerichts. JERZY STĘPIEŃ (69) ist polnischer Jurist und Politiker. 2006–2008 war er Präsident des Verfassung­sgerichts, seit 2009 ist er Hochschulp­rofessor an der Lazarski-Universitä­t in Warschau.

 ?? Fotos: Reuters / Rafal Malko, Jaroslaw R. Kruk / Wikipedia ?? Großdemo in Danzig: Seit der Angelobung der Regierung im November gehen viele Polen auf die Straße, um gegen das rechtsnati­onale Kabinett zu protestier­en.
Fotos: Reuters / Rafal Malko, Jaroslaw R. Kruk / Wikipedia Großdemo in Danzig: Seit der Angelobung der Regierung im November gehen viele Polen auf die Straße, um gegen das rechtsnati­onale Kabinett zu protestier­en.
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