„Es ist der Versuch eines Putsches von oben“
Der ehemalige Präsident des polnischen Verfassungsgerichts, Jerzy Stępień, fordert die Einhaltung der Verfassung ein und warnt vor der Übermacht von Jarosław Kaczyński.
Seit Wochen protestieren tausende Polen gegen die Regierung. Sie fordern die Rücknahme der umstrittenen Justizreform des nationalkonservativen Kabinetts unter Beata Szydło (PiS) sowie eine Revidierung von Richter-Ernennungen im Verfassungsgericht.
Der Europarat wertet den Kurs der polnischen Regierung als Gefahr für die Demokratie und fordert Warschau auf, die Urteile des Verfassungsgerichts, das seine eigene Entmündigung durch die Politik als verfassungswidrig eingestuft hatte, zu achten.
Die Regierung will das Urteil des Verfassungsgerichts nicht im Amtsblatt veröffentlichen, damit es unwirksam bleibt – ein nie da gewesener Schritt.
STANDARD: Im Wahlkampf hatte die nun regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) einen „guten Wandel“versprochen ... Stępień: Im Gegenteil, wir haben es mit einem schlechten Wandel zu tun; mit dem Versuch eines Putsches von oben. Wir haben es hier und heute in Polen mit einer Revolution zu tun. Präsident Andrzej Duda signalisierte mit der Begnadigung von Mariusz Kaminski, dass man sich nicht groß an das Recht halten wird. Der Ex-Chef der der Anti-Korruptions-Behörde war wegen Amtsmissbrauchs verurteilt, doch Duda konnte ihn gar nicht begnadigen, weil das Urteil noch gar nicht rechtskräftig war.
STANDARD: Was strebt die Regierung unter Beata Szydło denn an? Stępień: Es geht um die totale Unterordnung des Staates unter die Fuchtel eines einzigen Mannes, des Vorsitzenden der PiS. Jarosław Kaczyński ist es, der allen die Regieanweisungen gibt.
STANDARD: Gab es 2006 bis 2008, als Sie selbst Präsident des Verfassungsgerichts waren, ähnliche Attacken auf Polens Demokratie? Stępień: Die PiS hatte damals noch keine absolute Mehrheit. Bitte berücksichtigen Sie, dass Jarosław Kaczyński ein Politiker ist, der völlig unfähig zu jeder Form von Kompromiss ist.
STANDARD: Das Verfassungsgericht wird nun infrage gestellt. Was wäre die Verfassung ohne solches? Stępień: Das wäre wie ein Strafgesetzbuch ohne Staatsanwälte und Richter. Ohne Verfassungshüter ist eine Verfassung lediglich eine Sammlung frommer Wünsche, wie es Hans Kelsen einmal sagte.
STANDARD: Will die PiS verfassungswidrige Gesetze verabschieden? Stępień: Wir haben es mit einer ungewöhnlich gefährlichen Situation zu tun. Sicher wird auch diese Regierung einmal abtreten, aber vorher kann sie tiefgreifenden Schaden anrichten. Es ist nicht vorherzusehen, in welchem Zustand Polens Demokratie in einigen Jahren sein wird. Eine Phase des permanenten Chaos führt oft zum Wunsch nach einem starken Mann – einem „Führer“. Wir kennen das aus der Geschichte.
STANDARD: Versteht die Mehrheit der Polen, was da vor sich geht? Stępień: Ja, davon ich bin überzeugt. Viele wollen sich noch nicht eingestehen, einen schweren Fehler begangen zu haben.
STANDARD: Was steht am Ende? Eine neue Verfassung? Stępień: Die PiS wartet wohl nur den geeigneten Moment ab, um eine neue Verfassung zu verabschieden – wahrscheinlich wieder nachts und innerhalb von Minuten und gegen geltendes Recht. Das Verfassungsgericht als Kontrollinstanz ist bereits lahmgelegt. STANDARD: Müsste der Präsident auf die neue Verfassung schwören? Stępień: Alte Verfassung, neue Verfassung – für Duda dürfte das ziemlich egal sein.
STANDARD: Aber muss er nicht eines Tages dafür geradestehen? Stępień: Duda ist überzeugt, dass es niemals dazu kommen wird; dass das Volk ihn so sehr liebt und dass diese Regierung lange an der Macht bleiben wird. Duda ist so aber auch zur Geisel Kaczyńskis und seiner PiS geworden.
STANDARD: Kann man das Verfassungsgericht überhaupt politisch verhandeln? Stępień: Polen hat seine Verfassung zu respektieren, der angeblich angestrebte Kompromiss würde den Rücktritt aller 15 Verfas- sungsrichter vorsehen, wobei acht von der liberalkonservativen Bürgerplattform (PO) vorgeschlagen werden würden und sieben von der PiS. Das wäre die totale Politisierung des Verfassungsgerichts. JERZY STĘPIEŃ (69) ist polnischer Jurist und Politiker. 2006–2008 war er Präsident des Verfassungsgerichts, seit 2009 ist er Hochschulprofessor an der Lazarski-Universität in Warschau.