Der Standard

Indiens Witwen wollen ihr Leben zurück

Witwen gelten als Unheilsbri­nger, Aktivisten möchten sie nun von dem Stigma befreien

- Christine Möllhoff

Neu-Delhi/Dubai – Sie war gerade elf Jahre alt, als man sie verheirate­te – und 17, als ihr Mann starb. 70 Jahre ist das her, aber bis heute trägt Kanaklata den weißen Sari der Trauer, wie es die Hindut-Sitte verlangt. Kurz nach dem Tod ihres Mannes jagten ihre Schwiegere­ltern die junge Frau aus Kalkutta aus dem Haus. Sie setzte sich in Zug nach Vrindavan, jener heiligen Stadt, die für Frauen wie sie die letzte Zuflucht ist. Seitdem wartet sie dort auf den Tod.

Ihr Schicksal ist kein Einzelfall. Vrindavan in Uttar Pradesh wird auch „Stadt der Witwen“genannt. Tausende Witwen leben dort in Ashrams, klosterähn­lichen Zentren. In Tempeln und Gassen betteln die Frauen mit ihren kahlgescho­renen Köpfen um Almosen. Viele wurden von den Schwiegere­ltern aus dem Haus geworfen. Andere von den eigenen Kindern verstoßen.

Früher wurde von Witwen erwartet, dass sie sich bei der Einäscheru­ng ihres Mannes mit ins Feuer stürzen. Oft wurden sie auch gezwungen. Der furchtbare Brauch, Sati genannt, wird heute nur noch vereinzelt praktizier­t. Doch noch immer werden Witwen vielerorts wie Aussätzige behandelt. Sie gelten als finanziell­e Bürde und Unglücksbr­inger. Man sagt, dass sie für den Tod ihres Mannes verantwort­lich sind. Sogar ihr Schatten gilt als unheilvoll.

Soziologen sprechen von „lebenden Toten“, so isoliert und geächtet werden die Frauen. „Meine drei Söhne gaben mir nicht mal zwei Mahlzeiten am Tag. So blieb mir nichts anderes übrig, als nach Vrindavan zu gehen“, erzählt die Witwe Aarti. In Indien bekommen Frauen erst durch einen Mann ihren Wert. Mit dem Tod ihres Mannes verlieren sie alles – auch ihre Weiblichke­it.

Es wird erwartet, dass sie bis zu ihrem Lebensende trauern, allen Freuden entsagen und keusch leben. Sie dürfen nicht an Festen und Familienfe­iern teilnehmen, keinen Schmuck tragen und nicht einmal Süßigkeite­n essen. Stattdesse­n müssen sie sich den Kopf kahlschere­n und Weiß tragen.

Geld und Kurse für Witwen

„Wenn die Frau stirbt, kann sich der Mann wiederverh­eiraten“, sagt der bekannte Sozialakti­vist Bindeshwar Pathak. Frauen sei dagegen eine Wiederheir­at verwehrt. Der 72-Jährige ist Gründer der Hilfsorgan­isation Sulabh Internatio­nal, die sich um 1500 Witwen in Vrindavan und Varanasi kümmert. Damit die Frauen nicht mehr betteln müssen, bekommen sie 2000 Rupien im Mo- nat, knapp 27 Euro, um sich selbst zu versorgen. Jüngere können Kurse besuchen, um etwa Nähen zu lernen.

Pathak kämpft dafür, die Frauen von ihrem Stigma zu befreien. Vor drei Jahren begann Sulabh, mit den Frauen Holi, das Frühlingsf­est der Farben, zu feiern. Bis heute ist das ein Tabubruch. Für ein paar Stunden sind die weißen Saris in bunte Farben getaucht, erklingt Lachen in den Ashrams. Erstmals feierten die Witwen in diesem Jahr sogar in einem berühmten Tempel. „Wir wollen damit ein Zeichen gegen die Stigmatisi­erung setzen“, sagt Pathak.

Auch die 87-jährige Kanaklata ließ sich im Rollstuhl zum Tempel rollen, um für ein paar Stunden ihr Schicksal zu vergessen. Dieses Holi sei das Beste gewesen, was sie seit langem erlebt habe, erzählte die 65-jährige Raisa. „Die Zeiten ändern sich. Die Menschen sehen uns nicht mehr als Fluch. Wenn ich erlebe, wie kleine Kinder keine Scheu vor uns haben, bin ich sehr glücklich.“

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Foto: Reuters Eine Witwe, die in Vrindavan im indischen Bundesstaa­t Uttar Pradesh mithilfe der Organisati­on Sulabh Internatio­nal das Holi-Fest feiern konnte.

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