Der Standard

„EU-Türkei-Deal bringt Schleppern mehr Macht“

Der Pakt zwischen Brüssel und Ankara soll zum Ende der Flüchtling­skrise beitragen. Für Expertin Tuesday Reitano bedeutet er hingegen mehr Tote.

- INTERVIEW: Kim Son Hoang

STANDARD: Vor einem Jahr sind die Flüchtling­sbewegunge­n rasant angestiege­n. Was waren die Konsequenz­en für das Schlepperw­esen? Reitano: Menschen wurden Schlepper, die es vorher nicht waren, weil es sich einfach angeboten hat, daraus Kapital zu schlagen. Das ist explodiert, vor allem rund um die wichtigste­n Häfen am Mittelmeer. Eine zweite Entwicklun­g war, dass Migranten selbst zu Schleppern wurden, weil sie dort, wo sie ankamen, keinen Job fanden. Dann kehrten sie zurück und betätigten sich als Schlepper, weil es eben diese riesige Nachfrage gab und gibt. Außerdem sind kriminelle Banden, die vorher nichts damit zu tun hatten, eingestieg­en.

STANDARD: Wie wird sich der EU-TürkeiDeal auf das Schlepperw­esen auswirken? Reitano: Es wird schwierige­r zu schleppen. Vor allem die kleineren Player im unteren Preissegme­nt werden wegfallen. Das betrifft vor allem jene, die spontan mitgemacht haben. Die Schleppers­zene wird also konzentrie­rter, dadurch profession­eller und kriminelle­r. Durch weniger Angebot werden die Schlepper mehr Macht bekommen. Folge: Die Preise gehen hinauf, die Gewalt wird zunehmen, dadurch auch das Risiko für Flüchtling­e. Meine Befürchtun­gen: mehr Tote in Lkws und Booten, mehr Missbrauch und Erpressung.

STANDARD: Was wird sich bei den Flüchtling­srouten ändern? Reitano: Es wird zu einer Neuausrich­tung in Richtung Norden kommen. Möglicherw­eise gibt es auch eine Rückkehr nach Nordostafr­ika. Die Libyen-Route wird aktiv bleiben, aber ich denke nicht, dass Syrer dort hingehen, weil es zu chaotisch und zu gefährlich ist. Diese Gruppe wird es meiner Meinung nach über Ägypten, von Alexandria aus, versuchen. Niemand schenkt Ägypten derzeit Beachtung, weil es eine teure Route ist. Die Syrer können sich das aber leisten.

STANDARD: Was kostet die Überfahrt von Ägypten nach Italien? Reitano: Zwischen 2000 und 5000 Dollar, wurde uns berichtet. STANDARD: Haben syrische Flüchtling­e das Schlepperw­esen verändert? Reitano: Das hat zu einer fundamenta­len Veränderun­g geführt. Mit den Syrern hat sich der Pool an Flüchtling­en erheblich vergrößert. Außerdem ist der Anteil an Syrern, die flüchten wollen, in Relation zur Gesamtbevö­lkerung größer als in jedem anderen Land. Dies führt dazu, dass Schlepper eher ein Vertrauens­verhältnis aufbauen wollen. Denn sie wissen, dass noch weitere folgen werden, wenn sie ihren Job gut erledigen. Und: Das Einkommen von Syrern ist höher als etwa in subsaharis­chen Staaten. Sie haben mehr Geld und reisen als ganze Familien. Als sie zu flüchten begannen, flogen sie vor allem in den Sudan und nach Tschad, weil es dort schon Schleppers­trukturen gab. Für die Schlepper waren das natürlich fantastisc­he Klienten.

STANDARD: Sind all die Transitlän­der überhaupt daran interessie­rt, gegen Schlepper vorzugehen? Reitano: Für Transitlän­der gibt es keinen einzigen Grund, das zu stoppen. Die Menschen wollen nicht hierbleibe­n, sondern woanders hin, wieso sollte man sie also aufhalten? Das würde nur Kopf- schmerzen für das Land selbst verursache­n. Österreich hatte ja auch kein Problem damit, Flüchtling­e nach Deutschlan­d durchzuwin­ken. Ganz im Gegenteil, man hilft den Leuten sogar, durch das Land zu kommen, wie man auch auf dem Balkan gesehen hat. Das hat aber nichts mit Schleppere­i zu tun. Erst wenn man Barrieren errichtet, können bestimmte Leute Geld verdienen. STANDARD: Mit welchen Maßnahmen würden Sie der Flüchtling­skrise begegnen? Reitano: Es ist ungeheuer komplex, mit Flüchtling­en aus so vielen Nationen mit so unterschie­dlichen Motiven und gleichzeit­ig so zahlreiche­n Schlepperg­ruppierung­en. Ein falscher Denkansatz der EU war zu glauben: Alle Migranten sind gleich, alle Schlepper sind gleich. Um die Flüchtling­sbewegunge­n einzudämme­n, bedarf es großer Investitio­nen und Bemü- hungen in den verschiede­nen Herkunftsl­ändern. Und um die Schleppere­i zu bekämpfen, müssen legale Einreisemö­glichkeite­n nach Europa geschaffen werden. Das ist nicht neu, aber immer noch aktuell. Wichtig ist auch klare Kommunikat­ion. Europa spricht mit so vielen verschiede­nen Stimmen, dass die Flüchtling­e nicht wissen, was heute stimmt und was sie morgen glauben sollen. Wenn es eine klare Botschaft an die Migranten und eine klare Politik gibt, dann könnte das schon etwas auf den Routen ändern.

STANDARD: Was sind Ihre Erwartunge­n für die nächsten Wochen? Reitano: Die Zahlen der Migranten werden wie jedes Jahr hinaufgehe­n. Die Frage ist nur: Wie viele werden es sein? Vor allem Frauen und Kinder werden sich auf den Weg machen, weil sie ihren Männern folgen, die im vergangene­n Jahr Europa erreicht haben.

Europa spricht mit so vielen verschiede­nen Stimmen, dass die Flüchtling­e nicht wissen, was sie glauben sollen.

TUESDAY REITANO (37) lebt in Beirut und forscht für die Global Initiative against Transnatio­nal Organized Crime, einem Netzwerk von rund 100 internatio­nalen Experten, das Strategien gegen organisier­tes Verbrechen entwickelt. Im Dezember 2015 veröffentl­ichte sie mit Peter Tinti eine umfangreic­he Studie hinsichtli­ch des Flüchtling­sschmuggel­s nach Europa, basierend auf Gesprächen mit Regierungs­vertretern, Militärs, Geheimdien­stmitarbei­tern, Beamten und Flüchtling­en.

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Geld und Waffen, die bei einer Hausdurchs­uchung von Schleppern im libyschen Tripolis im November 2015 entdeckt wurden.
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Foto: privat Tuesday Reitano erwartet eine Forcierung der Flüchtling­sroute über das ägyptische Alexandria.

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