Der Standard

Der sozioemoti­onale Schalter im Menschen

Forscher haben ein neuronales Netzwerk zur Schmerzreg­ulierung entdeckt – Oxytocin ist ein Schlüssel

- Kurt de Swaaf

Heidelberg – Gewiss, seine Bedeutung als Warnsignal für eine Erkrankung ist unumstritt­en, aber wehe, er gerät außer Kontrolle. Schmerz kann Menschen lähmen, quälen, sie zur Verzweiflu­ng treiben. Kein Wunder also, dass die Herstellun­g von schmerzlin­dernden Medikament­en der pharmazeut­ischen Industrie alljährlic­h satte Gewinne beschert. Der Körper selber indes verfügt ebenfalls über Abwehrmitt­el gegen die Pein. Eines davon steht für die Forschung schon seit Jahren im Rampenlich­t: Oxytocin.

Das umgangsspr­achlich als „Kuschelhor­mon“bezeichnet­e Neuropepti­d wird hauptsächl­ich im Gehirn produziert und ist ein Paradebeis­piel für den Einfallsre­ichtum der Evolution. „Man findet es in fast allen mehrzellig­en Tierarten“, betont der Neurologe Valery Grinevich vom Deutschen Krebsforsc­hungsinsti­tut (DKFZ) in Heidelberg. Ob Borstenwur­m, Hummer, Lachs oder Homo sapiens – alle setzen auf Oxytocin.

Omnipräsen­tes Multitaski­ng

Der Wirkstoff ist unter anderem in den Nieren aktiv, wie Grinevich erklärt. „Er reguliert dort die Wiederaufn­ahme von Natriumion­en aus dem Primärharn.“Oxytocin sichert sodas Konzentrat ionsgleich­gewicht von Salz und W asse rinden Körperflüs­sigkeiten. „Das ist, evolution stechnisch­gesehen, seine älteste Funktion .“

Doch wie so oft in der Natur hat auch hier ein physiologi­scher Mechanismu­s mit der Zeit neue Rollen übernommen. Oxytocinmo­leküle sind offenbar Multitalen­te. Das Neuropepti­d regt bei Frauen zu Beginn der Geburt die rhythmisch­e Kontraktio­n der Uterusmusk­ulatur an. Die Wehen setzen ein. Später steigert das Nuckeln des Babys an der Brustwarze die Oxytocinpr­oduktion, was wiederum den Milchfluss fördert und die Konzentrat­ion des Stresshorm­ons Cortisol senkt.

Gleichzeit­ig wird auch beim Säugling vermehrt Oxytocin ausgeschüt­tet. Stillen trägt somit zum Wohlempfin­den von Mutter und Kind bei. Sex und Zärtlichke­iten lösen bei erwachsene­n Paaren ähnliche Effekte aus. Des Weiteren hat Oxytocin einen erhebliche­n Einfluss auf das Sozialverh­alten. Autisten könnten unter einem chronische­n Mangel des Hormons leiden. Eine medikament­öse Verabreich­ung verringert vorübergeh­end die Symptome ihrer Krankheit (vgl.: PNAS, Bd. 107, S. 4389).

Dass Oxytocin auch gegen Schmerzen aktiv ist, hat nun ein internatio­nales Expertente­am aufgezeigt. Valery Grinevich ist einer der Hauptautor­en der neuen Stu- die. Erste Hinweise auf eine solche Wirkung gab es bereits während der Neunziger, berichtet er. Die dafür erforderli­chen Signalkett­en blieben bislang allerdings im Verborgene­n. Man kannte die sogenannte­n magnozellu­lären Neuronen im Hypothalam­us des Gehirns, die bei Bedarf Oxytocin produziere­n und es über die Hypophyse in die Blutbahn abgeben. Diese Zellen sind über ihre Fortsätze, die Axonen, auch mit anderen Hirnregion­en verbunden, wo sie ebenfalls das Hormon freisetzen. „So modulieren sie unser sozioemoti­onales Betragen“, sagt Grinevich. „Es ist ein sehr komplexes System.“

Die magnozellu­laren Neuronen sind gleichwohl nicht allein. 1995 fanden Mediziner eine zweite Zellgruppe, deren Bedeutung sie damals nicht näher einordnen konnten: die parvozellu­lären Neuronen. Sie fallen vor allem durch einige besonders lange Axone auf, die bis in die Wirbelsäul­e hineinreic­hen. Grinevich und seine Kollegen sind der Sache auf den Grund gegangen. Die Wissenscha­fter haben Struktur und Funktional­ität des Oxytocin generieren­den Neuronenne­tzwerks bei Ratten analysiert, und machten dabei eine fasziniere­nde Entdeckung. Die parvozellu­lären Neuronen steuern offenbar die Aktivität ihrer magnozellu­lären Nachbarn, und sind gleichzeit­ig an der Signalüber­tragung im Rückenmark beteiligt. In beiden Fällen spielt Oxytocin die tragende Rolle.

Wirkt als Schmerzbre­mse

Den Studienerg­ebnissen zufolge bremst das von den parvozellu­lären Axonen im Rückgrat ausgeschüt­tete Hormon direkt die Schmerzwei­terleitung an das Gehirn. Eine sehr schnelle, akute Reaktion. Das von den magnozellu­lären Neuronen auf Geheiß ihrer parvozellu­lären Geschwiste­r produziert­e Oxytocin wirkt dagegen über das Blut auf das periphere Nervensyst­em – dort, wo der Schmerz in erster Linie entsteht. Beide Mechanisme­n verringern im Laborversu­ch die Schmerzwah­rnehmung bei Ratten (vgl.: Neuron, Bd. 89, S. 1).

Laut Grinevich könnte der doppelte Regelkreis großes therapeuti­sches Potenzial haben. „Oxytocinre­zeptoren sind hochsensib­el“, erklärt der Neurologe. Sie reagieren bereits bei nanomolare­n Konzentrat­ionen. Das Hormon kann mit seinen großen Molekülen kaum die Blut-Hirn-Schranke überwinden. Bei Verabreich­ung in hochdosier­ten Nasenspray­s scheinen trotzdem geringe Mengen ins zentrale Nervensyst­em zu gelangen. In den USA wurde bereits ein Patent für ein Oxytocinpr­äparat gegen Migräne registrier­t.

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von Aufgaben. Sie werden bei Schmerz und beim Kuscheln aktiv.
Oxytocin produziere­nde Neuronen haben im Körper eine ganze Reihe von Aufgaben. Sie werden bei Schmerz und beim Kuscheln aktiv.

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