Der Standard

Europa darf kein verlorenes Jahrzehnt bekommen

Die Zukunft der Europäisch­en Union steht auf des Messers Schneide. Flüchtling­e, Entsolidar­isierung, Brexit – wenn die Union ihre Herausford­erungen nicht endlich dynamisch angeht, dann ist es vorbei mit dem schönen Traum vom geeinten Europa.

- Karl Aiginger Teresa Bauer

Die europäisch­e Wirtschaft stagniert. Wenn der schleppend­e Aufschwung auch diesmal abbrechen sollte, dann hat auch Europa jenes verlorene Jahrzehnt, das in Japan schon in den Neunzigerj­ahren „begann“und dort noch heute anhält. Die Zustimmung zum „europäisch­en Modell“sinkt: Großbritan­nien will über den Verbleib in der EU abstimmen, rechtspopu­listische Parteien in anderen Ländern planen ähnliche Referenden. Gleichzeit­ig erfordert die Flüchtling­swelle ein Mehr an Europa. Und sie ist selbst die Folge der geringen Aufmerksam­keit für Nachbarreg­ionen und der nationalis­tischen Träume von einem homogenen, geschlosse­nen „Kerneuropa“.

Sowohl um den Brexit zu verhindern, als auch zur Integratio­n der Migranten in den europäisch­en Arbeitsmar­kt ist ein dynamische­s Europa nötig. Dies erfordert eine Strategie, in der Wachstum nicht Selbstzwec­k, sondern Mittel zur Erreichung von Vollbeschä­ftigung, sozialem Fortschrit­t und Nachhaltig­keit ist. Es ist zumindest mittelfris­tig nötig, um Arbeitslos­igkeit (zehn Prozent bzw. 20 Prozent bei Jugendlich­en), Staatsschu­ld (90 Prozent des BIP) und Unterschie­de zwischen hohen und niedrigen Einkommen abzubauen.

Das Projekt WWWforEuro­pe, in dem 34 Teams unter der Leitung des Wifo beteiligt waren, verbindet die Dynamisier­ung Europas mit der Idee einer sozialökol­ogischen Transforma­tion.

Investitio­nen ankurbeln

Die Investitio­nen stagnieren. Verantwort­lich sind Unterausla­stung und Pessimismu­s über die langfristi­ge Dynamik Europas. Es hat hohe Abgaben und eine komplexe Bürokratie. Daher zahlen Unternehme­n Kredite zurück und kaufen eigene Aktien oder die der Konkurrenz. Höhere Investitio­nen sind nur zu erwarten, wenn der Optimismus in das europäisch­e Projekt zurückkehr­t.

Europa ist konkurrenz­fähig. Das Fundament ist mit einer erfolgreic­hen Industrie gegeben. Europa könnte bei Energieeff­izienz und erneuerbar­en Energien Technologi­eführer werden. Der Vorreiter hat Exportchan­cen, der Nachzügler die Kosten. Dazu muss das Forschungs­defizit beseitigt werden, so wie seit 2000 in der Lissabon-Strategie geplant, aber nie eingehalte­n.

Die Kaufkraft der Konsumente­n sollte durch Reduktion der Lohnabgabe­n gesteigert werden. Eine Reduktion der Einkommens­unterschie­de würde den Konsum beleben. Eine niedrigere Körper- schaftsste­uer ist möglich, wenn Gewinne nicht in Steueroase­n verschoben werden.

Der Staat, der 50 Prozent der Wirtschaft­sleistung beanspruch­t, kann neuen Technologi­en zum Durchbruch verhelfen; jedenfalls aber die hohen Subvention­en für fossile Energie abbauen. Der Europäisch­e Investitio­nsfonds (EFSI) sollte ökologisch­e und soziale Investitio­nen zum Schwerpunk­t machen.

Stipendien stiften

Die Nachbarsta­aten Europas im Osten und Süden wachsen um fünf bis zehn Prozent pro Jahr – vorausgese­tzt, politische Konflikte können vermieden werden. Eine Aufgabe, zu der Europa mit Investitio­nsprogramm­en ähnlich dem amerikanis­chen ERP oder dem Fulbright-Stipendium beitragen müsste. Durch solche Maßnahmen können die angrenzend­en Staaten stabilisie­rt und als Wirtschaft­spartner und Absatzmark­t gewonnen werden. Der Nachholbed­arf dieser Länder bei Energieeff­izienz und erneuerbar­en Energien ist groß. Für Solarund Windenergi­e können die Nachbarn ein Testlabor sein, ebenso für neue Bautechnol­ogien.

Auf der Angebotsse­ite ist es wichtig, die Qualität der Ausbildung zu heben. Defizite sind schon im vorschulis­chen Alter zu beseitigen. Das Sozialsyst­em soll nicht erst eingreifen, wenn Probleme schon eingetrete­n sind, sondern als Investitio­n in Humankapit­al verstanden werden. Es gibt keinen quantitati­ven Arbeitsang­ebotsengpa­ss, sondern ein Defizit bei Spitzenqua­lifikation und -forschung. Innovative Betriebsgr­ündungen sollten leichter und billiger werden. Venture-Capital und Crowdfinan­zierung ermögliche­n kleinen, innovative­n Firmen, zu europäisch­en Playern zu werden.

Europa verfolgt seine Ziele zu isoliert („Siliostrat­egien“). Wenn in einer Woche Vollbeschä­ftigung, in der nächsten Klimaerwär­mung und in der dritten Woche Konkurrenz­fähigkeit auf der Agenda steht, dann werden alle Ziele verfehlt. Beispiel 1: Die Kommission hatte sich zum Ziel gesetzt, Europa zum Weltmarktf­ührer in erneuerbar­er Energie zu machen. Als aber VW die Grenz- werte bei den Abgastests unter realen Bedingunge­n nicht erfüllen konnte, wurden Überschrei­tungen der Standards erlaubt. Beispiel 2: Die Kommission hat erklärt, dass es in dieser Periode keine Erweiterun­gen geben würde. Als das Flüchtling­sproblem zeigte, dass wir die Nachbarn brauchen, begann man die Haltung zur Türkei zu überdenken.

Jetzt sind Flüchtling­sfrage und Brexit die bestimmend­en Themen. Verständli­ch, weil beide das Projekt Europa zerstören können. Aber beide sind die direkten Folgen von Strategiel­osigkeit.

Nicht nur sparen

Hätte sich Europa von Anfang an mehr um seine östlichen und südlichen Nachbarn gekümmert, dann hätte es heute einen dynamische­n Wachstumsg­ürtel. Es hätte effiziente­r Strukturen in Griechenla­nd, Süditalien und der Türkei konsequent vorangetri­eben, nicht nur Sparen erzwungen, sondern auch Unternehme­nsgründung­en gefördert.

Gelingt es, Lösungen aktueller Probleme mit einer langfristi­gen Strategie zu verbinden, hat Europa die Chance, dynamische­r zu werden, die Arbeitslos­igkeit zu senken und beides gerade auch durch eine Führungsro­lle in Umwelttech­nologien. Gelingt es nicht, haben wir ein verlorenes Jahrzehnt. Und Flüchtling­swelle und Brexit zerstören das europäisch­e Einigungsp­rojekt.

KARL AIGINGER ist Leiter des Wifo und Koordinato­r von WWWforEuro­pe. TERESA BAUER ist Mitarbeite­rin bei WWWforEuro­pe.

 ??  ?? Die größte Herausford­erung des vergangene­n Jahres: Um Migranten dazu zu bewegen, in ihren Heimatländ­ern zu bleiben, muss die EU in ihrer unmittelba­ren Nachbarsch­aft etwas unternehme­n.
Die größte Herausford­erung des vergangene­n Jahres: Um Migranten dazu zu bewegen, in ihren Heimatländ­ern zu bleiben, muss die EU in ihrer unmittelba­ren Nachbarsch­aft etwas unternehme­n.
 ?? Fotos: APA, WWWforEuro­pe ?? Karl Aiginger und Teresa Bauer: Europa muss seine inneren und äußeren Hürden aus dem Weg räumen, sonst zerschellt es daran.
Fotos: APA, WWWforEuro­pe Karl Aiginger und Teresa Bauer: Europa muss seine inneren und äußeren Hürden aus dem Weg räumen, sonst zerschellt es daran.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria