Der Standard

Der geopferte moralische Anspruch

Weil die Türkei Flüchtling­e abhält, verzichtet die EU auf Umsetzung ihrer Werte

- Alexandra Föderl-Schmid

Jean-Jacques Rousseau, Wegbereite­r der Französisc­hen Revolution, befand: Wer Politik und Moral auseinande­rhalten will, versteht von beidem nichts. Moral ist Voraussetz­ung für die Politik in einem Rechtsstaa­t, denn politische Macht ist mit einem moralische­n Wertesyste­m verbunden: Demokratie, Pressefrei­heit und Gewaltente­ilung gehören dazu. Darauf ist Europa zu Recht stolz. EU-Staaten weisen Länder wie Russland oder China gerne mit erhobenem Zeigefinge­r auf die Einhaltung dieser Werte hin. Aber wenn es um die Türkei geht, dann pocht Europa neuerdings nicht mehr darauf.

Seit Freitag stehen der Chefredakt­eur der Zeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und Bürochef Erdem Gül vor Gericht, ihnen wird von Staatschef Tayyip Erdogan persönlich Spionage nach einem Bericht über Waffenlief­erungen der Türkei an Extremiste­n in Syrien vorgeworfe­n. Die beiden Journalist­en waren bereits drei Monate in Haft. Auch Korrespond­enten deutscher Medien mussten ausreisen, weil ihnen Akkreditie­rungen verweigert worden waren. Öffentlich­en Protest vonseiten der Politik gab es nicht.

Die EU-Staaten brauchen die Türkei zur Lösung des Flüchtling­sproblems und sind deshalb „bereit, Ideale über Bord zu werfen“, wie Dündar in einem Presse- Interview kritisiert­e. Die EUStaaten müssen sich diesen Vorwurf gefallen lassen. Denn sie setzen darauf, dass die Türkei ihnen die Flüchtling­e abhält und abnimmt. Wer auf den griechisch­en Inseln landet, wird retour in die Türkei geschickt. ass damit rechtsstaa­tliche Prinzipien infrage gestellt werden, darauf haben UN-Organisati­onen aufmerksam gemacht. UNHCR und die Hilfsorgan­isation Ärzte ohne Grenzen haben ihre Arbeit in Aufnahmela­gern auf griechisch­en Inseln eingestell­t mit der Begründung, dort werden Menschen inhaftiert. Bereits 2011 hat der Europäisch­e Gerichtsho­f geurteilt, dass Asylwerber nicht mehr nach Griechenla­nd gebracht werden dürfen, weil es dort zu Menschenre­chtsverlet­zungen kommt.

Von der österreich­ischen Regierung, die sich in Sachen Flüchtling­sabwehr neuerdings geeint zeigt, wurden diese rechtliche­n Einschränk­ungen ignoriert. Ohne Griechenla­nd einzubezie­hen, wurde beim Westbalkan­Gipfel in Wien ein Abschotten der Bal-

Dkanroute vereinbart. Hauptsache, die Flüchtling­e bleiben ausgesperr­t, möglichst weit weg vom eigenen Land.

Während Bilder der am Budapester Bahnhof festgehalt­enen Flüchtling­e im September die Regierunge­n in Wien und Berlin zum Eingreifen brachten, führte das Schicksal der in Idomeni festsitzen­den Menschen zu keinen politische­n Aufnahmege­sten. Außenminis­ter Sebastian Kurz meinte sogar, dass Flüchtling­e „mit Polizeigew­alt aufgehalte­n werden müssen“. Nur dass dies dann die Türken erledigen und sich die Europäer die Hände nicht schmutzig machen müssen.

Selbst die deutsche Regierungs­chefin Angela Merkel, die die Vereinbaru­ng mit der Türkei federführe­nd angestrebt hat, kann nicht mehr in Anspruch nehmen, Kanzlerin einer „moralische­n Leitnation“zu sein. Deutschlan­ds grüner Ex-Außenminis­ter Joschka Fischer versuchte in einem Zeit- Beitrag eine Rechtferti­gung: Die Kunst demokratis­cher Außenpolit­ik bestehe darin, „dass möglichst wenige Widersprüc­he zwischen Werten und Interessen auftreten“. Nach diesem interessen­getriebene­n Deal mit der Türkei können die Europäer nicht mehr in aller Welt als Moralapost­el auftreten.

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