Einmal ohne Sünde sein
In Jubiläumsjahren können Katholiken in Rom den vollständigen Ablass aller Sündenstrafen erreichen. Dafür müssen sie einiges auf sich nehmen – und vor allem im Glauben aufgehoben sein. Ein Selbstversuch.
Sie trägt eine beige Bluse mit aufgedruckten schwarzen Herzen. Ausgerechnet an diesem Abend. Aber vielleicht, vielleicht hat die Signora sie ja mit Bedacht gewählt. Sie arbeitet und telefoniert gleichzeitig. Mit ihrer Rechten macht sie Aperol Spritz, Chips und Oliven fertig, mit links den Herrn am anderen Ende der Leitung:
„Pack deine sieben Sachen und verschwinde!“
Die Amerikaner an der Budel begreifen nicht, dass es in Italien einen Unterschied gibt zwischen Latte und Café Latte, zwischen Milch und Milchkaffee. Die Signora hilft mit Zeichensprache.
„Es interessiert mich nicht, wo du heute Abend schläfst!“Zwei Deutsche wollen Bier. „Du bist ja völlig verrückt!“Ja, große Bier. Kleine zahlen sich bei ihnen nicht aus.
„Dein Bruder? Der ist ja um keinen Deut besser als du!“
Der Geschirrspüler piepst, das Programm ist durch.
„Nur dass du’s weißt: Ich habe das Telefonat aufgezeichnet. Verschwinde endlich!“
Die Signora öffnet die Luke. Ihre schwarzen Augen blitzen angriffslustig. Dampf steigt hinter der Theke auf.
„Oh, Madonna! Ich bringe dich um! Ich schwöre es dir!“
In den Gassen von Trastevere: Hierher kommen Touristen, wenn sie das „echte Rom“erleben und von Römern herzerwärmend ignoriert werden wollen. Im La Parolaccia, dem Gasthaus „Zum Schimpfwort“, begrüßen griesgrämige Kellner die Gäste unverhohlen als „Dreckskerle“und „Imbezille“, bevor sie deren Bestellung aufnehmen. Gleich daneben, in der Bar del Cinque, wo die schwarzen Herzen einschenken, wird der Gast nicht beschimpft, aber auch nicht viel mehr als geduldet. Nachsicht findet sich hier keine. Bei der Signora nicht. Bei den echten Römern nicht. Und im richtigen Leben erst recht nicht.
In den Vatikan
Wer auf Vergebung hofft, der muss sich entlang des GianicoloHügels in nördliche Richtung aufmachen. Zum Vatikan. Dort sind Sühnemöglichkeiten heuer en gros und en détail zu haben. Papst Franziskus hat das sogenannte Jubeljahr der Barmherzigkeit ausgerufen. Pilger, die in diesem Heiligen Jahr nach Rom kommen, können den vollkommenen Ablass aller zeitlichen Sündenstrafen er- langen, wenn sie bestimmte Kriterien erfüllen: Sie müssen in die Heilige Messe, zur Beichte, die Heilige Pforte durchschreiten und für die Intentionen des Papstes beten. Dann haben sie gewissermaßen wieder eine weiße Weste vor Gott. Wer in diesem Status stirbt, dem wird nach dem Tod die unmittelbare Gottesschau (visio beatifica) zuteil. Alle anderen müssen den Umweg über das Fegefeuer nehmen und dort von Sünden(-strafen) gereinigt werden, erst dann können sie Gott schauen.
Eingefallen ist die Sache mit dem Anno Santo Papst Bonifaz VIII. im Jahr 1300. Dem Pontifex war seinerzeit ein gewisser Hochmut – die Nummer eins der sieben Todsünden übrigens – nicht abzusprechen. Er fügte der päpstlichen Tiara unter anderem einen zweiten Kronreifen hinzu, um die weltlichen Herrschaftsansprüche des Heiligen Stuhles zu demonstrieren. Und er erließ die Bulle „Antiquorum habet fida relatio“. Darin heißt es: „Wir gewähren allen, die in diesem gegenwärtigen und in jedem folgenden hundertsten Jahr ehrfürchtig zu diesen Basiliken kommen, wahrhaft Buße tun und gebeichtet haben, nicht nur volle und reichliche, sondern vollste Vergebung aller ihrer Sünden.“
Ursprünglich sollte das „Giubileo“also alle 100 Jahre stattfinden. Es stellte sich allerdings schon beim ersten Mal – Bonifaz VIII. musste vor lauter Andrang Gegen- verkehrsbereiche auf der Engelsbrücke einführen, insgesamt kamen gut zwei Millionen Pilger nach Rom – als ein solcher, auch wirtschaftlicher, Erfolg heraus, dass der Rhythmus im Laufe der Jahrhunderte auf zuletzt 25 Jahre verkürzt wurde. Praktischerweise konnten Ablässe auch anderen Frommen zugewendet werden, die sich nicht in Rom einfinden konnten, was mehr als 200 Jahre lang zu einem schwunghaften Handel damit führte.
Luthers 95 Thesen
Ein wenig Missvergnügen kam beim Heiligen Stuhl schließlich doch auf, als im Jahr 1517 ein Augustiner-Mönch namens Martin Luther 95 Thesen an das Hauptportal der Schlosskirche zu Wittenberg nagelte, in denen er das Ablasswesen scharf anging (These 75: „Es ist irrsinnig zu meinen, daß der päpstliche Ablaß mächtig genug sei, einen Menschen loszusprechen.“). Obwohl die Einkünfte aus dem Ablasshandel den eben begonnenen Bau des Petersdomes prächtig finanzierten, kam es
unter Papst Clemens VII. 1525 zum Verbot käuflicher Ablässe. Zuwiderhandelnden droht noch heute die Exkommunikation. Die Institution der Jubeljahre aber, die blieb bestehen. Und Geld kann freiwillig zugewendet werden.
Das jüngste reguläre Heilige Jahr fand 2000 statt (32 Millionen Pilger). 2015/2016 ist ein außergewöhnliches Jubiläum – und eines, das ein wenig schwächelt. Seit Dezember sind erst 2,8 Millionen Pilger in die Heilige Stadt gekommen. Aus Terrorfurcht, wie es heißt. Aber auch deswegen, weil der jetzige Papst es den Diözesen erlaubt hat, selbst Heilige Pforten in ihren jeweiligen Hauptkirchen zu öffnen und so auch dort den Erwerb des vollkommenen Ablasses zu ermöglichen.
Sankt Peter
Die Stimmung an den Souvenirständen auf der Via della Conciliazione, der „Straße der Versöhnung“, die der Sichtachsen-Fanatiker Benito Mussolini nach der Aussöhnung mit dem Heiligen Stuhl in den Lateranverträgen vom Tiber zum Petersplatz hat hauen lassen, ist durchwachsen.
„Wie die Geschäfte gehen? Na, schlecht, wie denn sonst? Willst du kaufen?“Der mürrische Herr am Souvenirstand will Ware losschlagen, nicht plaudern. Er hat Rosenkränze im Angebot (ein Stück ein Euro, zwölf Stück für zehn Euro), daneben Kühlschrankmagnete mit Vatikanbildern, Kreuze, Ketten, Ringe, Römerhelme, Statuen aus falschem Marmor, Wackelkopf-Figuren von Papst Franziskus, Marlon Brando als Paten und Fußball-Lokalmatador Francesco Totti. Nichts davon scheint die Passanten so recht zu interessieren.
Weiter vorne, am Einlass zum Petersplatz, schieben die Freiwilligen eine ruhige Kugel. Der Pilgerstrom ist überschaubar. Selbst an den Sicherheitsschleusen mit den Flughafen-Scannern muss niemand länger warten als ein paar Minuten.
An einer der Absperrungen stehen John LoCoco und Gregory Crane. Die beiden Priesterseminaristen sammeln Schäfchen ein. Die jungen Amerikaner führen kostenlos durch den Petersdom und freuen sich über jeden, der sich ihnen anschließen will. Crane erzählt die Geschichte der Basilika mit Begeisterung. Er schwärmt von den Bernini-Kollonaden samt Heiligenstatuen, die Gläubige quasi umarmen und empfangen (der Heilige Gregor ist drauf, das hat er gecheckt). Er zeigt auf den Balkon, auf dem der Papst Urbi et Orbi den Segen erteilt, auf das Gebäude, in dem er wohnt, und auf den im Platz eingelassenen Stein, der den genauen Ort des Attenta- tes auf Johannes Paul II. vom 13. Mai 1981 markiert. LoCoco steht daneben und sagt, er passe auf, dass „Gregg die Show nicht vermasselt“.
Von den vielen Menschen, die durch die Porta Santa in den Petersdom eintreten, bekreuzigen sich nur die wenigsten. Die große Mehrheit sind Touristen, die gleich nach rechts abbiegen, um Michelangelos Pietà zu fotografieren. Die Pilger erkennt man daran, dass sie das Heilige Tor berühren oder sogar küssen. Gregg Crane erklärt, dass die Basilika die Gläubigen seinerzeit natürlich beeindrucken sollte, aber nicht zu sehr, um sie nicht zu verschrecken. Er zeigt den Reliquienschrein Johannes XXIII., den Altar des Pontifex Maximus unter dem Baldachin und sagt, dass das Space Shuttle locker unter der Kuppel des Domes Platz finden würde.
John LoCoco gibt sich inzwischen Mühe, dem Skeptiker unter einem großen Mosaik, das den Tod von Hananias und Saphira abbildet, das Ablasswesen näherzubringen. Mit seiner Kritik, dass sich niemand zwischen den Menschen und den Erlöser drängen dürfe, um göttliche Vergebung quasi zu vermitteln, habe Martin Luther einen wichtigen Punkt getroffen. Aber: „Die Sünde ist nicht nur eine gegen Gott, sondern auch eine gegen die Kirche. In der Urkirche haben die Gläubigen ihre Sünden in der Öffentlichkeit einbekannt. Mit dem Ablass ist es so ähnlich. Wir leisten öffentlich Abbitte für unsere Sünden an der Gemeinde.“Hananias und Saphira starben vor den Füßen des Heiligen Petrus, weil sie alle ihre Güter in Jerusalem für die Kirche verkauft hatten, aber nicht den vollen Erlös an die Gemeinde übergaben. Soll heißen: Wer die Gemeinde (und Gott) betrügt, wer nicht alles gibt, der ist des Todes.
Gregg und John schauen erst zum Schluss bei der Pietà vorbei. Wer will, kann mit ihnen noch für die guten Absichten des Papstes im Heiligen Jahr beten. Ein Vaterunser und ein Ave Maria. Das ist schon ein guter Anfang für einen ernstgemeinten Anlauf für den vollkommenen Ablass.
Santa Maria Maggiore
Mary hält eine Hand ans Tor der Heiligen Pforte, schaut in die Höhe und bewegt lautlos ihre Lippen. Die junge Philippina ist von Parioli, einem noblen Wohnviertel etwas weiter nördlich, hierher nach Santa Maria Maggiore gefahren. Sie arbeitet als Hausangestellte und ist froh, dass es sie aus ihrer Heimat bis nach Rom getragen hat. Denn hier, sagt sie, könne sie ihrem Glauben intensiv nachgehen.
Das Heilige Jahr ist wichtig für Mary. Für das Anliegen des Papstes – die Barmherzigkeit – betet
sie. Und auch für die, die weit entfernt vom Glauben sind. Für sich selbst betet sie natürlich auch, sagt sie. „Ich hoffe, dass mir das Gottvertrauen nicht ausgeht. Dass ich nicht zweifle, wie das viele hier bei euch in Europa tun.“Ob sie denn nachvollziehen kann, warum so viele Menschen in Europa nicht an Gott glauben? Und ob es sie verstört, dass die Riten, Heilsversprechungen und Machtansprüche der katholischen Kirche vielen suspekt sind?
Mary schaut fast ein wenig empört. „Der Glaube ist doch das, was uns von den Tieren unterscheidet! Ohne ihn sind wir nichts. Ohne Gott können wir nicht leben. Er ist die Erklärung für alles und er steht uns in allen Schwierigkeiten bei.“Sie braucht daneben keinerlei andere Wahrheiten, keine Wissenschaft, keine nüchterne Weltsicht. Vom „um sich greifenden Relativismus“, wie es der Vorgänger des jetzigen Papstes ausdrückte, ist Maria nicht angekränkelt. Um ihr Gottvertrauen müsste sie sich keine großen Sorgen machen.
San Giovanni in Laterano
Eine der vielen Messen, die jeden Tag in Rom gelesen werden. San Giovanni in Laterano, zu deutsch St. Johann im Lateran, die dritte von vier Patriarchalbasiliken in Rom, die zum Jubiläum eine Heilige Pforte aufgemacht hat. Der Priester, ein schneidiger Südamerikaner, predigt über eine Bibelstelle aus dem JohannesEvangelium. Dort sagt Jesus zu den Juden: „Ich habe euch gesagt: Ihr werdet in euren Sünden sterben; denn wenn ihr nicht glaubt, dass ich es bin, werdet ihr in euren Sünden sterben.“Ostern, erklärt der Priester, gebe uns die Chance zu sehen, wie weit die Liebe Gottes gegenüber den Menschen gehe. Er habe seinen Sohn geopfert, um unsere Sünden zu tilgen. Gott gebe uns dadurch die einzigartige Möglichkeit, seine Güte zu spüren.
„Er spricht die Menschen mit den Herzen aus Stein an“, sagt der Priester. „Alle, die in ihrer Herzlosigkeit und Selbstbezogenheit verharren wollen, werden sterben!“Die Umkehr sei keine Zwangshandlung. Sie sei freiwillig, um Gottes Opfer zu ehren und das ewige Heil zu erlangen. „Darum lasset uns beten: „Schenke uns dein Heil, oh Herr, und deine Weisheit.“
Auch nach Santa Maria Maggiore kommen viele Touristen. In die Messe allerdings gehen nur Gläubige: Klosterfrauen, römische Damen im Lodenmantel, junge Pilger aus aller Welt in bunten GoretexJacken und Trekkingsandalen. Sie stellen sich in einer langen Reihe an, um die Kommunion zu empfangen, die der herrische Südamerikaner mit hartem Blick und großer Geste austeilt: „Der Leib Christi.“Ein Herz aus Stein? Davor sind vielleicht auch jene Diener Gottes nicht gefeit, die zu reuiger Umkehr aufrufen und den Menschen Vergebung vermitteln wollen.
San Paolo fuori le Mura
Sankt Paul vor den Mauern hat eine eigene U-Bahn-Station. Sie ist diejenige der vier Papstbasiliken, die sich am weitesten draußen befindet. Sie liegt an der Straße nach Ostia, an einer ehemaligen römischen Nekropole. Wer in die Kathedrale will, muss an etlichen Carabinieri-Posten und einer beeindruckenden Statue des Heiligen Paulus mit Schwert vorbei. An die Kirche angeschlossen ist ein BenediktinerKonvent samt Visitors Center, Kaffeehaus und Devotionalien-Shop.
Die Stuhlreihen im riesigen Mittelschiff der Basilika nehmen sich winzig aus. Wer sich dort hinsetzt, kommt sich ebenso vor. Zur vollen Stunde ist Schichtwechsel bei den Beichtvätern. Pater Giambattista kommt aus dem Kloster. Er trippelt, gestützt auf seinen Gehstock, langsam am Paulus-Grab vorbei. Die drei Stufen hinunter ins Mittelschiff nimmt er eine nach der anderen. Der kleine, grauhaarige Benediktiner hat einen geschulten Blick für Sünder. Auf dem Weg zum Beichtstuhl lächelt er sie gütig an. Dort angelangt klappt er das Seitentürchen auf und schaut heraus – nicht aufdringlich, aber doch bestimmt. Na, komm schon her, soll das heißen.
Ein Kreuzzeichen. „Wann hast Du das letzte Mal gebeichtet?“Keine Ahnung. Vor Jahrzehnten. „Sag mir deine Sünden.“Das wird einigermaßen schwierig. Nehmen sie einfach alles auf die Liste, ich habe in allen Farben gesündigt. „Auch in grün?“
Padre Giambattista gibt sich Mühe, nicht anklagend zu wirken. Solche Fälle scheint er öfter zu haben. Ein Scherz mag hie und da helfen. Er sagt: „Das Wichtigste, mein Sohn, ist ehrliche Reue. Dann wird alles gut. Natürlich, ein bisschen Bescheidenheit und Glauben muss auch sein, aber wenn bereut wird, dann kann nicht mehr viel schief gehen. Du bist doch auf Zack, das bringst du zusammen.“
Absolution erteilt
Der Pater reicht ein Kärtchen aus dem Beichtstuhl, weil der Sünder nicht mehr weiß, wie er korrekt um Vergebung fragen muss. Die Formel endet mit: „Signore, misericordia, perdonami. Herr, Barmherzigkeit, vergib mir.“Dann spricht Padre Giambattista die Absolutionsformel. Die Bußgebete sind überschaubar: wieder ein Vaterunser und ein Ave Maria.
Der Sünder ist nun – theoretisch – im Besitz der vollständigen Absolution von allen Sündenstrafen. Ein seltsames Gefühl. Oder vielmehr ein Nichtgefühl. Für Maria, Gregg, John, Padre Giambattista mag das etwas zählen. Sie sind im Glauben aufgehoben. Für diejenigen, die das nicht sind, liegen die Dinge anders. Friedrich Nietzsche hat die Lage des (post-)modernen Menschen in Aphorismus 125 der Fröhlichen Wissenschaft so beschrieben: „Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet! (…) Ist nicht die Größe dieser Tat zu groß für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine größere Tat.“
Aus dem Schicksal wird Machsal, aus kollektiver Schuld für die Lage der Menschheit wird persönliche Verantwortung. Für Nachsicht und Sühne müssen nun die Menschen sorgen. Ist es schwierig, sich selbst zu vergeben? Das mag sein. Noch viel schwieriger aber ist es, sich vergeben zu lassen. So viel Barmherzigkeit, so viel Gnade hält kein Mensch aus.
Trastevere. Ein neuer Abend. Die Signora trägt Aperol Spritz auf. Diesmal ist weniger los. Sie muss auch nicht telefonieren. Es geht weiter. Keine Gnade.