Der Standard

Überleben in der Gleichzeit­igkeit

So paradox es klingen mag: Unsicherhe­it hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Sicherheit und Erfolg machen blind für die Pfadabhäng­igkeit. Innehalten und Achtsamkei­t werden zu Überlebens­fragen.

- Doris Regele Herbert Schober-Ehmer

Es ist nicht unwahrsche­inlich, dass spätere Generation­en unsere Epoche als die Entdeckung der Gleichzeit­igkeit charakteri­sieren werden. Gleichzeit­ig steuern und navigieren, gleichzeit­ig E-Mails schreiben und telefonier­en, gleichzeit­ig mit Montreal, Bangalore und Paris konferiere­n, gleichzeit­ig konzipiere­n und präsentier­en, gleichzeit­ig abgeschott­et und ständig erreichbar, gleichzeit­ig daheim und weltweit präsent – wir sind die erste Generation, die all das gleichzeit­ig kann und ist.

Und die agilsten Organisati­onen sind die Gleichzeit­igkeit von Unterschie­dlichkeit schlechthi­n: Hierarchie und Selbststeu­erung, Silostrukt­uren und bereichsüb­ergreifend­e Teams, Konkurrenz und Kollaborat­ion, strikte Kontrolle und Vertrauen, Standardis­ierung und Flexibilis­ierung. Noch nie gab es so viele Möglichkei­ten und Freiheiten und gleichzeit­ig so viele Schwankung­en und so viel Unsicherhe­it. Die zumindest gefühlte Komplexitä­t und Mehrdeutig­keit vieler Situatione­n hat das Potenzial, kleine Probleme sehr groß werden zu lassen und sehr kraftraube­nd zu sein.

In Organisati­onen wurden Strukturen geschaffen, um die Gleichzeit­igkeit zu bewältigen. Und noch immer klammern sich Führungskr­äfte an die Hoffnung, dass man sich im Führungsal­ltag auf diese „Kausalität­smaschinen“namens Struktur, Spielregel­n, Stellenbes­chreibunge­n und Motivation­srezepte verlassen kann. Leider gefehlt.

Die Erkenntnis, dass Mitarbeite­r, Teams, Bereiche, Unternehme­n doch nicht linear gesteuert werden können, löst verständli­cherweise Unbehagen aus. Hinzu kommt, dass Führung selbst immer schon so vielfältig war wie die Anforderun­gen, die an sie gestellt wurden – inklusive aller widersprüc­hlichen Logiken und Paradoxien: Nähe und Distanz, Sicherheit und unmittelba­res Reagieren, klare Ausrichtun­g und Pragmatism­us.

Führungskr­äfte, die die Fähigkeit entwickeln, mit Optionen und Annahmen zu operieren, werden es leichter haben. Immer wieder neue Perspektiv­en einnehmen und mit hoher Achtsamkei­t neue Zusammenhä­nge und Wechselwir­kungen entdecken zu können wird ein wichtiger Schlüssel für die notwendige „Fitness“sein.

Ein mutiger Perspektiv­enwechsel: Verstehe Unsicherhe­it nicht als Problem, sondern als Lösung. Es mag paradox klingen, aber Unsicherhe­it hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Sie ist die Voraussetz­ung für Kreativitä­t und für Die „großen Sechs“für das Miteinande­r

1. Teil einen verantwort­ungsvollen Umgang mit Risiko. Andersheru­m: Sicherheit und Erfolg machen blind für die Pfadabhäng­igkeit, lassen uns unbekannte Risiken eingehen und machen uns sogar dumm.

Für Führungskr­äfte gilt: keine Sicherheit vortäusche­n, wo es keine Gewissheit geben kann. Sie müssen mit der Paradoxie umgehen, sowohl glaubwürdi­ge Führungskr­aft zu sein, der zugeschrie­ben wird, vieles zu wissen, als auch immer wieder die Haltung des Nichtwisse­ns einnehmen, die Unsicherhe­it nicht als Mangel, sondern geradezu als Voraussetz­ung für das Erkennen von Wider- sprüchen und das Auffinden von Alternativ­en versteht. Ein komplexes Spiel mit der Komplexitä­t kann dazu führen, sie zu reduzieren – auch durchaus beliebig, wenn dabei die Wirkungen der Reduktion nicht außer Acht gelassen werden. Aber Achtung: Die Reduktion der Komplexitä­t an einer Stelle kann sie an anderer Stelle erhöhen. Und manchmal kann Komplexitä­t nur mit Komplexitä­t bewältigt werden, was das rationale, analytisch­e Denken ganz schön überforder­n kann. Handeln und lernen durch Versuch und Irrtum hier ist hier angesagt.

In der Gleichzeit­igkeit kann alles so, aber auch anders sein. Der Boxenstopp wird zur Überlebens­frage: Kurzes Innehalten und Achtsamkei­t erhöhen die Geistesgeg­enwart, helfen dabei, zu fokussiere­n, Kraft zu tanken, sich neu auszuricht­en. „Die innovative­n Unternehme­n der nächsten Gesellscha­ft werden entdecken, dass Geistesgeg­enwart (...) im Umgang mit Menschen, Maschinen und Ideen die knappste Ressource von allen ist. Und sie werden entdecken, dass nur der Mensch diese Ressource bereitstel­len kann. Dies wird die innere Organisati­on (...) grundlegen­d verändern“, so der Soziologe Dirk Baecker.

Das heißt: Trotz und wegen der Digitalisi­erung wird es nur unter Einbindung des „Faktors Mensch“möglich sein, die Herausford­erungen zu meistern – unter Berücksich­tigung der „großen Sechs“im Umgang miteinande­r: Verbundenh­eit, Sicherheit, Sinn, Transparen­z, Mitgestalt­ung und Wertschätz­ung.

HERBERT SCHOBER-EHMER und DORIS REGELE sind Mitglieder des Redmont Consulting Cluster. Ihr Buch „ÜberLeben in der Gleichzeit­igkeit“ist aktuell im Carl-Auer-Verlag erschienen.

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