Überleben in der Gleichzeitigkeit
So paradox es klingen mag: Unsicherheit hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Sicherheit und Erfolg machen blind für die Pfadabhängigkeit. Innehalten und Achtsamkeit werden zu Überlebensfragen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass spätere Generationen unsere Epoche als die Entdeckung der Gleichzeitigkeit charakterisieren werden. Gleichzeitig steuern und navigieren, gleichzeitig E-Mails schreiben und telefonieren, gleichzeitig mit Montreal, Bangalore und Paris konferieren, gleichzeitig konzipieren und präsentieren, gleichzeitig abgeschottet und ständig erreichbar, gleichzeitig daheim und weltweit präsent – wir sind die erste Generation, die all das gleichzeitig kann und ist.
Und die agilsten Organisationen sind die Gleichzeitigkeit von Unterschiedlichkeit schlechthin: Hierarchie und Selbststeuerung, Silostrukturen und bereichsübergreifende Teams, Konkurrenz und Kollaboration, strikte Kontrolle und Vertrauen, Standardisierung und Flexibilisierung. Noch nie gab es so viele Möglichkeiten und Freiheiten und gleichzeitig so viele Schwankungen und so viel Unsicherheit. Die zumindest gefühlte Komplexität und Mehrdeutigkeit vieler Situationen hat das Potenzial, kleine Probleme sehr groß werden zu lassen und sehr kraftraubend zu sein.
In Organisationen wurden Strukturen geschaffen, um die Gleichzeitigkeit zu bewältigen. Und noch immer klammern sich Führungskräfte an die Hoffnung, dass man sich im Führungsalltag auf diese „Kausalitätsmaschinen“namens Struktur, Spielregeln, Stellenbeschreibungen und Motivationsrezepte verlassen kann. Leider gefehlt.
Die Erkenntnis, dass Mitarbeiter, Teams, Bereiche, Unternehmen doch nicht linear gesteuert werden können, löst verständlicherweise Unbehagen aus. Hinzu kommt, dass Führung selbst immer schon so vielfältig war wie die Anforderungen, die an sie gestellt wurden – inklusive aller widersprüchlichen Logiken und Paradoxien: Nähe und Distanz, Sicherheit und unmittelbares Reagieren, klare Ausrichtung und Pragmatismus.
Führungskräfte, die die Fähigkeit entwickeln, mit Optionen und Annahmen zu operieren, werden es leichter haben. Immer wieder neue Perspektiven einnehmen und mit hoher Achtsamkeit neue Zusammenhänge und Wechselwirkungen entdecken zu können wird ein wichtiger Schlüssel für die notwendige „Fitness“sein.
Ein mutiger Perspektivenwechsel: Verstehe Unsicherheit nicht als Problem, sondern als Lösung. Es mag paradox klingen, aber Unsicherheit hilft, die richtigen Fragen zu stellen. Sie ist die Voraussetzung für Kreativität und für Die „großen Sechs“für das Miteinander
1. Teil einen verantwortungsvollen Umgang mit Risiko. Andersherum: Sicherheit und Erfolg machen blind für die Pfadabhängigkeit, lassen uns unbekannte Risiken eingehen und machen uns sogar dumm.
Für Führungskräfte gilt: keine Sicherheit vortäuschen, wo es keine Gewissheit geben kann. Sie müssen mit der Paradoxie umgehen, sowohl glaubwürdige Führungskraft zu sein, der zugeschrieben wird, vieles zu wissen, als auch immer wieder die Haltung des Nichtwissens einnehmen, die Unsicherheit nicht als Mangel, sondern geradezu als Voraussetzung für das Erkennen von Wider- sprüchen und das Auffinden von Alternativen versteht. Ein komplexes Spiel mit der Komplexität kann dazu führen, sie zu reduzieren – auch durchaus beliebig, wenn dabei die Wirkungen der Reduktion nicht außer Acht gelassen werden. Aber Achtung: Die Reduktion der Komplexität an einer Stelle kann sie an anderer Stelle erhöhen. Und manchmal kann Komplexität nur mit Komplexität bewältigt werden, was das rationale, analytische Denken ganz schön überfordern kann. Handeln und lernen durch Versuch und Irrtum hier ist hier angesagt.
In der Gleichzeitigkeit kann alles so, aber auch anders sein. Der Boxenstopp wird zur Überlebensfrage: Kurzes Innehalten und Achtsamkeit erhöhen die Geistesgegenwart, helfen dabei, zu fokussieren, Kraft zu tanken, sich neu auszurichten. „Die innovativen Unternehmen der nächsten Gesellschaft werden entdecken, dass Geistesgegenwart (...) im Umgang mit Menschen, Maschinen und Ideen die knappste Ressource von allen ist. Und sie werden entdecken, dass nur der Mensch diese Ressource bereitstellen kann. Dies wird die innere Organisation (...) grundlegend verändern“, so der Soziologe Dirk Baecker.
Das heißt: Trotz und wegen der Digitalisierung wird es nur unter Einbindung des „Faktors Mensch“möglich sein, die Herausforderungen zu meistern – unter Berücksichtigung der „großen Sechs“im Umgang miteinander: Verbundenheit, Sicherheit, Sinn, Transparenz, Mitgestaltung und Wertschätzung.
HERBERT SCHOBER-EHMER und DORIS REGELE sind Mitglieder des Redmont Consulting Cluster. Ihr Buch „ÜberLeben in der Gleichzeitigkeit“ist aktuell im Carl-Auer-Verlag erschienen.