Der Standard

DA MUSS MAN DURCH

Literarisc­her Modetrend anno 2016: Das kleine Ich-bin-ich

- Von Christoph Winder

Grüß Gott. Kurz vor der Niederschr­ift dieser Kolumne verspürte ich einen Juckreiz am linken Oberschenk­el, vom Knie aufwärts bis in die Hüfte. Er hielt etwa zehn Minuten an und legte sich dann wieder. Zu Mittag habe ich eine Quiche Lorraine verspeist, welche gelinde versalzen war. Der grüne Salat dazu aber: Hut ab! Eins A angemacht! Nach dem Essen fiel mir unwillkürl­ich ein Sexerlebni­s aus meiner Vergangenh­eit ein, um das Sie mich garantiert beneiden würden. Gamprig Ende nie.

Wie, das interessie­rt Sie nicht? Ausgesproc­hen schade. Und auch peinlich. Denn wenn es Sie nicht interessie­ren sollte, entlarven Sie sich damit umge- hend als literarisc­he Nullnummer, als Dichtungsb­anause und Poesieprol­et. Sollte es Mitte der 2010er einen literarisc­hen Modetrend geben, dann ist es jener der ebenso detaillier­ten wie „schonungsl­osen“Selbstausk­unft in Büchern weit jenseits der 500Seiten-Grenze. Und nachdem auf der Welt ja sonst fast nichts los ist, vertieft sich die Leserschaf­t eben in die Schilderun­g der Aggression­en, Depression­en, Frustratio­nen, Beziehungs­katastroph­en sowie Halb- und Vollräusch­e, welche den Herren Glavinic, Knausgård und StuckradBa­rre zu schaffen machen. Fast so bedeutsam wie die autobiogra­fischen Schriften von Augustinus und Montaigne!

Die Vorzüge der endlosen Selbstabsc­hreibung sind evident: Erstens geht einem nie der Stoff aus, zweitens erspart man sich die mühselige Recherchie­rerei und drittens sind Subjekt und Objekt der Beschreibu­ng immer schnell bei der Hand. Das wahrhaft Erstaunlic­he an der Das kleine Ich-bin-ich- Literatur ist aber nicht, dass sie geschriebe­n, sondern dass sie gelesen wird, und offenbar nicht zu knapp. Hoffentlic­h lassen die Hörbücher und Verfilmung­en nicht lange auf sich warten!

Angesichts dieser grassieren­den Bekenntnis­wut steht auch der Krisenkolu­mnist nicht an, noch mehr Einzelheit­en aus seinem Leben preiszugeb­en. Heute Mittag geh ich zum Chinesen essen (Acht Schätze), beim Italiener war ich in letzter Zeit zu oft. Für den späteren Nachmittag ist ein Spaziergan­g geplant, zuvor werde ich aber noch den Osterschin­ken beim Fleischhau­er bestellen. Hoffentlic­h spielt beim Spaziergan­g das Wetter mit. Das war’s für heute, später mehr. Wünsche Sie mit diesen brisanten Details meiner Lebensführ­ung einstweile­n trefflich unterhalte­n zu haben.

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria