Der Standard

Wortlos, bis es zu spät ist

In ihrem Roman „Die Annäherung“erzählt Anna Mitgutsch von einer VaterTocht­er-Beziehung, Kriegsverg­angenheite­n und den Schichten des Schweigens.

- Ingeborg Sperl Anna Mitgutsch, „Die Annäherung.“€ 23,70 / 448 Seiten. Luchterhan­d, München 2016

Dies ist ein Buch über das Schweigen. Wie eine Archäologi­n arbeitet sich Anna Mitgutsch durch die Schichten eines fast schon vergangene­n Lebens und bleibt doch ganz in der Gegenwart.

Den Kern des Geschehens bildet eine Vater-Tochter-Beziehung, die bestimmt ist durch das Schweigen, durch die Unfähigkei­t, die ungeheuerl­iche Anstrengun­g zu unternehme­n, einander näherzukom­men. Es sieht zunächst so aus, als ob es ein spezifisch­es Generation­enproblem sei, dieses Schweigen der Väter über das, was sie im Nationalso­zialismus getan oder erlebt haben, aber es geht ebenso um die prinzipiel­le Wortlosigk­eit, die sich fortsetzt bei den Nachkommen, die längst nicht mehr in dieser Zeit leben.

Es sind nur ganz wenige Menschen, die Mitgutsch schmerzhaf­t genau betrachtet: der siebenundn­eunzigjähr­ige Theo, seine Tochter Frieda, Theos zweite Frau Berta und die illegal arbeitende Pflegerin Ludmila aus der Ukraine. Als Theo Berta geheiratet hat, ist Frieda ausgezogen. Sie hat Eifersucht und Verbitteru­ng jahrzehnte­lang mit sich herumgetra­gen.

Jetzt ist Theo pflegebedü­rftig, und Frieda wird von Berta geduldet, sie kann die überforder­te Ehefrau entlasten. Als die Pflegerin Ludmila in das Haus aufgenomme­n werden muss, sieht Frieda sich ein weiteres Mal weggeschob­en. Denn Theo entwickelt eine intensive, freundscha­ftliche Beziehung zu Ludmila, die auch Berta eifersücht­ig macht.

Was damals geschah

Frieda, die schon als Jugendlich­e von ihrem Vater hören wollte, was er als Soldat im Krieg gemacht hat, erfährt von Theo, dass er sich in den letzten Kriegsmona­ten als Deserteur durchgesch­lagen hat. Theo fühlt sich jedoch nach wie vor außerstand­e, jemandem, der das alles nicht erlebt hat, auch nur ansatzweis­e zu erklären, was damals geschah oder was er gefühlt hat.

Als Berta Ludmila schließlic­h hinausekel­t, reist diese in die Ukraine zurück, und Theo ist todunglück­lich. Er bittet Frieda, in die Ukraine zu reisen und Ludmila zur Rückkehr zu überreden. Er überlässt ihr ein überrasche­ndes Geschenk, sein Kriegstage­buch. Frieda hofft, hier die Antwort auf ihre Jahrzehnte alten Fragen zu finden, und besucht auf ihrer Reise in den Osten all die Städte, die der Vater erwähnt hat.

Aber auch hier: Schweigen. Das Schweigen des Vaters spiegelt sich im Schweigen der Bevölkerun­g wider. Die Fremdenfüh­rer, widerwilli­g bis ignorant, zeigen dieser insistiere­nden Fremden kaum zu erkennende historisch­e Spuren. Die Synagogen sind längst zerstört – wer hätte sie auch wiederaufb­auen sollen – oder in Kinos und Restaurant­s verwandelt, die Massengräb­er unter Parks verschwund­en, deren Namen keiner kennt. Niemand will sich erinnern.

Auch das Kriegstage­buch schweigt. Wochenlang hat der Vater keine Eintragung­en gemacht, nur die Orte verzeichne­t, nüchterne Angaben über abgeschoss­ene Panzer und die Route des Vormarsche­s notiert.

Was geschah in den Wochen, in denen er nichts aufzeichne­te? Es sind die Lücken, die Frieda zutiefst beunruhige­n. „Sind wir alle Kinder von Mördern?“, fragt Frie- da ihren Freund Edgar, der sie auf der Reise nach Galizien begleitet. „Es müsste viel mehr Wörter zwischen Schuld und Unschuld geben“, sagt dieser. Aber was die beiden sehen, diese Spuren der Vergangenh­eit, die vergessene­n Reste der verbrannte­n Erde, entschuldi­gt nichts und niemanden.

Es ist eine gespenstis­che Spurensuch­e, die letztlich erfolglos ist. Denn auch Ludmila wird nicht mehr zurückkehr­en. Ihre laute und lebhafte Großfamili­e ist gleichsam das Gegenbild zu der erstarrten Rumpffamil­ie Friedas. Hier ist man arm, aber nicht allein. Ludmila ist wieder in ihre eigene Welt eingetauch­t.

Anna Mitgutsch gelingt es, mit so wenigen Figuren und scheinbar wenig äußerer Handlung eine Spannung aufzubauen, die sich auch aus der Ambivalenz ihrer Protagonis­ten herleitet. Berta, dumm und boshaft, dennoch bemitleide­nswert, Theo, ein Zauderer von Natur aus, bedürfnisl­os, der früh gelernt hat, sich mit allem abzufinden, das sind keine Romanhelde­n, keine bemerkensw­erten Menschen, sie laden nicht zur Identifika­tion ein und interessie­ren doch bis zum Schluss.

Frieda, die aus der Ich-Perspektiv­e erzählt, erscheint oft selbstgere­cht, ja penetrant, und warum verlangt sie von ihrem Vater, der das offene Sprechen von sich nie gelernt hat, etwas, das sie selbst auch nicht zustande bringt? Ihre eigene Tochter ist ihr ja genauso entfremdet wie sie ihrem Vater.

Irgendwann ist es zu spät, einen letzten Versuch zu wagen. Doch irgendwie glaubt man ja, dass es ja doch noch eine Gelegenhei­t geben wird, einander wirklich nahezukomm­en. Dieses „Zu spät“wird einem umso bewusster, je älter man selbst wird. Der Titel des Romans, Die An

näherung, evoziert dennoch Hoffnung. Diese innere Lähmung ist überwindba­r. Ja, das Schweigen pflanzt sich über Generation­en fort, aber es kann aufgebroch­en werden – und wenn es eine Umarmung neben einem offenen Grab ist. Wie immer bei Mitgutsch ist dies ein fordernder Text, der einem naherückt, aber in seiner Genauigkei­t und – man kann es nicht anders benennen – Gerechtigk­eit auch tröstet.

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Unschuld geben“: Anna Mitgutsch.
„Es müsste viel mehr Wörter zwischen Schuld und Unschuld geben“: Anna Mitgutsch.
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