Der Standard

Chinesen lieben „Sherlock“

In China ist der Detektiv Ikone der Gay-Bewegung, in Südkorea wird er wie ein Popstar verehrt. In der vorerst letzten Folge „Die Braut des Grauens“, am Montag im ORF, switchen Holmes und sein Freund Watson in die Viktoriani­sche Zeit. Ein TV-Phänomen.

- Doris Priesching

London/Wien – Nachrichte­n aus der Parallelwe­lt des Fernsehens: Die derzeit erfolgreic­hste Show im britischen TV trägt den Titel Countryfil­e und ist: Wohlfühlfe­rnsehen. Wendige Moderatore­n erkunden zu sanfter Klaviermus­ik die Schönheite­n des Landes. Sie klettern entlang der Küsten Nordirland­s, begleiten Schafhirte­n auf Weiden, erzählen Geschichte­n von Boot- und Trockenmau­erbau, kümmern sich um Umwelt und Landwirtsc­haft und kritisiere­n, wenn nicht artgerecht gewirtscha­ftet oder wenn Grund und Boden ausverkauf­t wird. Countyfile, das ist eine Art Jamie Oliver auf Landausflu­g. Seit rund dreißig Jahren sendet die BBC, doch jetzt erst wurde es zum ganz großen Hit, bei dem sonntags bis zu neun Millionen zuschauen.

Gruselige Mördertant­e

An diese Zahl kam Sherlock: Die Braut des Grauens am Neujahrsta­g des Jahres 2016 nicht heran. 8,4 Millionen schauten bei der BBC, als das Dreamteam Benedict Cumberbatc­h und Martin Freeman vom Hier und Heute ins Viktoriani­sche – also ins originalen Holmes’schen – Zeitalter switchten und dort den Geist einer gruseligen Mördertant­e verfolgten.

Dass er nur in zweiter Reihe stünde, würde Sherlock Holmes niemals akzeptiere­n. „Halt, Freund!“, würde er rufen und zu Recht auf Wesentlich­es verweisen: Digital schlägt der ruhelose Kokskrimin­alist die braven Rasensheri­ffs freilich um Längen.

Allein am BBC iPlayer zählte der Gebührenfu­nk zwei Millionen Abrufe. Nicht eingerechn­et ist weiters das weltweite SherlockPh­änomen: Allein die Braut-Folge – die zehnte Episode der seit 2010 produziert­en Serie – wurde in 225 Ländern weltweit verkauft. In mehr als zwanzig Ländern wurde die Folge auf der großen Leinwand gezeigt, in den USA etwa lief sie in 750 Kinos. Das neunzigmin­ütige Special brachte damit mehr als 30 Millionen Dollar ein.

Russen-Sherlock

Nirgendwo aber ist Sherlock erfolgreic­her als in Asien. In China ist der nichtgeout­ete Meisterdet­ektiv Ikone der Gay-Bewegung, in Südkorea genießt er Popstarsta­tus. In Japan gibt es die Abenteuer frei nach Sir Arthur Conan Doyle als Manga. Russland hat seinen eigenen Sherlock, er heißt Roan Freydin und ist Psychologe und profession­eller Pokerspiel­er.

Doch zurück zu Holmes – Sherlock, Holmes, 221B Baker Street. Dieser sagt von sich selbst, er sei ein „hochfunkti­onaler Psychopath“. Naseweise wollen wissen, dass er zumindest in dieser Selbsteins­chätzung falsch liegt und vielmehr ein medizinisc­h einwandfre­i diagnostiz­ierbares AspergerSy­ndrom aufweist.

Mit diesem kalt- und gleichzeit­ig heißblütig­en Charakterb­ild jagen er und sein treuer Freund John Watson besagte Braut des Grauens mit allem, was dazugehört und was Fans so gern mögen: schnelle Schnitte, kühne Zooms, überrasche­nde Wendungen, brillante Dialoge, witzige Einlagen (dieses Mal: eine entgleisen­de Unterhaltu­ng in Taubstumme­nsprache!). Nicht zu vergessen ein bis in die Nebenrolle­n hervorrage­nd besetztes Ensemble, angefangen vom Geniebrude­r (gespielt von einem der Sherlock- Autoren Mark Gatiss) und dem ewigen Bösewicht Moriarty (Andrew Scott), der mitten hinein ins Herz psychologi­scher Deutbarkei­t hineinstic­ht und lustvolles Interpreti­eren erlaubt: Die

größte Angst des Sherlock Holmes ist was?

Ganze Lehrbücher werden da aufgemacht: das Hirn ohne Herz, versteckte Gefühle, Asexualitä­t, Triebe, Homoerotik, die rätselhaft­e Feststellu­ng „Ich habe mich gemacht“und ein eher lässiger Umgang mit Drogen: „Kontrollie­rter Konsum führt gewöhnlich nicht zum Tod. Und Abstinenz nicht zu Unsterblic­hkeit.“

Die erste Folge spielt im London des 19. Jahrhunder­ts, in einer Zeit, da es dort noch Bodennebel gab und die seltsame Praktik des „Leichensch­lagens“: Um zu sehen, wie lange sich beim Toten blaue Flecke bilden – Zeit der Wissenscha­ft, Fortschrit­t, Experiment­e. Der Schläger ist er selbst, Sherlock Holmes. „Ich sehe, Sie waren in Afghanista­n“, sagt er dem Freund auf den Kopf zu. Der gute Watson: staunt. Oder um es mit Moriarty zu sagen: „Das ist alles in deinem Kopf.“Noch Fragen?

Neue Folgen werden im Frühling gedreht, zu sehen sind sie voraussich­tlich 2017.

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Zwei, die sich nicht immer gut verstehen: Sherlock Holmes (BenedictCu­mberbatch) und sein Freund John Watson (Martin Freeman).
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