Der Standard

Imre Kertész – der Literat als Außenseite­r

Menschheit­sbruch und Überlebens­erfahrung: Spät erst wurde das Werk von Imre Kertész rezipiert, 2002 wurde er mit dem Nobelpreis ausgezeich­net. Der radikalen Außenseite­rperspekti­ve ist der Autor, der 86-jährig in Budapest verstarb, treu geblieben.

- Bert Rebhandl

Budapest/Wien – Im Jahr 1992 dachte Imre Kertész einmal an einen bestimmten Tag seiner Lebensgesc­hichte: „Was habe ich am 9. April 1951 getan? Vor einundvier­zig Jahren? Ich glaube, ich habe in der MAVAG Eisen- und Maschinenf­abrik gearbeitet, als ausgeboote­ter Intellektu­eller.“

Anlass für diese Reflexion war eine Stelle in Ludwig Wittgenste­ins Über Gewissheit, in der der österreich­ische Philosoph über seinen Namen nachdenkt: Weiß er, dass er Ludwig Wittgenste­in heißt, oder glaubt er es nur? In diesem Zweifel fand Imre Kertész sich am besten zurecht. Die Notiz zu seiner Zeit als „ausgeboote­ter Intellektu­eller“im kommunisti­schen Ungarn stammt aus den Jahren unmittelba­r nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Für Kertész endete mit dem Untergang des real existieren­den Sozialismu­s ein Lebensabsc­hnitt, dem er auch in seiner späten Periode als internatio­nal gefeierter Schriftste­ller und als Nobelpreis­träger nicht entkam: „Ich bin das unverbesse­rliche Kind von Diktaturen, meine Besonderhe­it ist das Gebrandmar­ktsein.“

Gleichwohl enthalten seine Aufzeichnu­ngen Ich – ein anderer (1997) noch ein zweites Motiv neben dem Tragen einer Brandmarke. Es ist ebenjene Selbstdist­anz, die jedes Autorenleb­en prägt und die sich bei ihm mit den Erfahrunge­n der „Subalterni­tät“mischt, die er als ungarische­r Jude im 20. Jahrhunder­t gemacht hat.

In seinem bekanntest­en Werk, dem Roman eines Schicksall­osen, schildert er, wie er als heranwachs­ender Junge von der mörderisch­en Geschichte eingeholt wird. Die Familienzu­sammenkunf­t, von der er zu Beginn erzählt, dient noch der Verabschie­dung des Vaters in den „Arbeitsdie­nst“.

Das Geschäft wird in die Hände eines Verwalters gelegt, wenig später wird auch der Sohn zusammen mit anderen Jungen im Schulalter abgeführt und deportiert. Das erste Ziel ist AuschwitzB­irkenau, wo Kertész sich als 16jährig ausgibt, zwei Jahre älter. Er bleibt nur drei Tage, dann wird er nach Buchenwald transporti­ert. Es ist der Juli 1944, bis zur Befreiung ist es noch fast ein Jahr.

Radikaler Außenseite­r

Kertész überlebt die Nazilager dank entscheide­nder Freunde wie des zehn Jahre älteren Bandi Citrom, der ihm half, „ein guter Häftling“zu werden, also einer, der sich nicht aufgab, aber auch dank einiger Unwägbarke­iten, wie sie im bürokratis­ierten Töten vorka- men. Er hätte die Gelegenhei­t gehabt, nach Amerika zu emigrieren, schreibt seine Biografin Irene Heidelberg­er-Leonhard in ihrer Monografie zu Leben und Werk von Imre Kertész, aber er entschied sich dafür, nach Budapest zurückzuke­hren, wo sich gerade die nächste Diktatur in seinem Leben etablierte. Das Leben eines Schriftste­llers hat Kertész von zwei Seiten kennengele­rnt: aus der radikalen Außenseite­rperspekti­ve eines Mannes, der mit seinem Lebensmens­chen Albina Vas in einer 28 Quadratmet­er großen Wohnung ein „Gefängnisl­eben“fortsetzte, „doch nun zu zweit“.

Eigene Mythologie

Auf diese Weise arbeitete er an seinem ersten Roman Ich, der Henker, einer Tätergesch­ichte mit messianisc­hen Motiven, die er 1960 aufgab, um „meine eigene Mythologie“zu schreiben: den Roman eines Schicksall­osen, der schließlic­h erst 1975 zum ersten Mal in Ungarn erscheinen konnte und auf wenig Zustimmung stieß.

Erst mit der Anerkennun­g im Ausland öffnete sich die andere Seite für Kertész: 1990 erschien Mensch ohne Schicksal in Deutschlan­d, sechs Jahre später die heute verbindlic­he Übersetzun­g von Christina Viragh mit dem veränderte­n Titel Roman eines Schicksall­osen.

Die Rezeption seiner Arbeit ist also vielfach verspätet, er war 60 Jahre alt zu dem Zeitpunkt, als der „Gulaschkom­munismus“an sein Ende kam. Nun wurden in rascher Folge auch seine späteren Werke in zahlreiche Weltsprach­en über- setzt: Fiasko (über das Leben eines ausgeboote­ten Schriftste­llers unter der Parteidikt­atur in Ungarn), Kaddisch für ein nicht geborenes Kind (der Monolog eines Schriftste­llers über den Menschheit­sbruch in Auschwitz), die Erzählunge­n in Die englische Flagge.

2002 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. In diesen Jahren lebte er vielfach außerhalb Ungarns, wo er unter den zunehmende­n nationalis­tischen und antisemiti­schen Strömungen litt. Eine Parkinson-Erkrankung veranlasst­e ihn 2012 allerdings zu einer Rückkehr nach Budapest. 2014 wurde ihm der Sankt-Stephans-Orden verliehen, den er von Ministerpr­äsident Orbán in Empfang nahm, was ihm Kritik eintrug.

Auch auf diese Weise bewahrte Kertész sich zeitlebens eine Freiheit, die aus der paradoxen Einsicht in die Sinnlosigk­eit eines Daseins resultiert­e, das er liebte, dem er aber nicht traute. „Schließlic­h ist das ,Leben‘ personenge­bunden; und auch wenn wir zur Einsicht gelangen, dass unser Dasein ein Irrtum ist, können wir – zumindest was unsere Person betrifft – schwerlich im Tod eine würdige Korrektur dieses Irrtums sehen.“

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heit ist das Gebrandmar­ktsein“, notierte Imre Kertész nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.
Auch als Nobelpreis­träger nicht entkommen: „Ich bin das (...) Kind von Diktaturen, meine Besonder heit ist das Gebrandmar­ktsein“, notierte Imre Kertész nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

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