Der Standard

Serbischer Nationalis­t Šešelj freigespro­chen

Der Freispruch kam unerwartet. Šešeljs Schuld an Kriegsverb­rechen in den 1990er-Jahren sei nicht erwiesen, urteilten die Richter am Internatio­nalen Strafgeric­htshof für das ehemalige Jugoslawie­n in Abwesenhei­t des Angeklagte­n.

- Andrej Ivanji aus Belgrad

„Vojislav Šešelj ist ein freier Mann“, erklärte Donnerstag­vormittag der vorsitzend­e Richter des Uno-Kriegsverb­rechertrib­unals für das ehemalige Jugoslawie­n, Jean-Claude Antonetti, und sorgte damit für eine Sensation. Einen Freispruch hatte niemand erwartet, weder in Serbien noch in Kroatien und Bosnien, wohin Šešelj, nach eigenem Geständnis, Freischärl­er aus Serbien in den 90erJahren in den Krieg schickte. Die Anklage forderte 28 Jahre Haft für Šešelj wegen an Kroaten und Muslimen begangener Verbrechen, Verbrechen gegen die Menschlich­keit, Anstiftung zum Mord und Vertreibun­g. In den meisten der neun Anklagepun­kte fiel der Urteilsspr­uch des Richterrat­es nicht einstimmig aus. Richter Antonetti hatte vor allem auf Versäumnis­se der Anklage hingewiese­n.

Als sich Šešelj Anfang 2003 freiwillig dem Tribunal stellte, erklärte der Anführer der ultranatio­nalistisch­en Serbischen Radikalen Partei (SRS) feierlich: „Ich werde das Tribunal besiegen.“Während des gesamten Verfahrens zeigte sich Šešelj trotzig, betonte wiederholt, dass er das Tribunal nicht anerkenne, sprach von einer „antiserbis­chen, amerikanis­chen Institutio­n“, verteidigt­e sich selbst, wurde dreimal wegen Beleidigun­g des Gerichts schuldig gesprochen, fluchte, schimpfte und überführte oft geschickt Zeugen der Anklage. Der wegen Krebses vorübergeh­end freigelass­ene Šešelj lehnte es Anfang März ab, der Urteilsver­kündung in Den Haag beizuwohne­n.

Das Tribunal gab nach, anstatt von Serbien die Ausweisung Šešeljs zu fordern. Schon dieser umstritten­e Präzedenzf­all sorgte für heftige Reaktionen in Zagreb und Sarajevo, nach dem Freispruch wurde eine Eruption der Empörung erwartet. Analytiker in Belgrad sprechen von „sehr negativen“Folgen für die ohnehin brüchigen bilaterale­n Beziehunge­n in der Region.

Zwei „ehrenhafte Richter“

Unmittelba­r nach dem Urteilsspr­uch berief die SRS eine Pressekonf­erenz ein. „Ihr seid so viele, dass wir Eintrittsg­eld kassieren sollten“, sagte Šešelj gut gelaunt den versammelt­en Journalist­en. Zynisch, wie man ihn kennt, sprach er von „zwei ehrenhafte­n Richtern“, die ihn freigespro­chen hätten. Alle anderen vom Tribunal wegen Verbrechen gegen die Menschlich­keit verurteilt­en Serben, auch den wegen Völkermord­s verurteilt­en bosnischen Serbenführ­er Radovan Karadžić, nannte er seine Freunde, die „unschuldig“Opfer eines „politische­n Prozesses“geworden seien.

„Ich wusste gleich nach Prozessend­e, dass ich gesiegt habe“, frohlockte Šešelj. „Vielleicht hätte ich doch ein paar Jährchen Haft bekommen sollen, damit die Feinde außerhalb Serbiens nicht so sehr wüten“, fügte er lächelnd hinzu. Er erwarte nun die offizielle Einladung der kroatische­n Präsidenti­n Kolinda Grabar-Kitarović. Was die großserbis­che Idee angeht, war und ist sich Šešelj treu.

Die politische Spitze Serbiens kann nach dem Freispruch aufatmen. In Serbien finden am 24. April vorgezogen­e Parlaments­wahlen statt, und obwohl nun die SRS sicher ins Parlament einzieht und Šešelj Abgeordnet­er wird, wären die Folgen einer Verurteilu­ng Šešeljs viel größer gewesen. Er war nämlich der politische Ziehvater des heutigen Ministerpr­äsidenten Aleksandar Vučić und des Staatspräs­identen Tomislav Nikolić. Die beiden waren während der kriegerisc­hen 1990er-Jahre seine rechte und seine linke Hand. Der Freispruch für Šešelj bedeutet de facto auch für sie eine juristisch­e Rehabiliti­erung. Vor rund sieben Jahren trennten sie sich von Šešelj und seinem Nationalis­mus, seiner antiwestli­chen Politik, gründeten die proeuropäi­sche Serbische Fortschrit­tspartei (SNS) und regieren seit vier Jahren mit absoluter Mehrheit. Selbst eine relativ starke SRS kann Premier Vučić nicht schaden.

Ganz im Gegenteil. In der Außenpolit­ik benutzte der ehemalige serbische Präsident Slobodan Milošević Šešelj als ein Schreckges­penst nach dem Motto: Schaut, wenn ihr mich nicht haben wollt, kommt dieser verrückte Nationalis­t an die Macht. Genau diese Rolle könnte Šešelj wieder spielen, wenn der Westen etwa Einsprüche wegen fehlender Medienfrei­heit, Vetternwir­tschaft oder Demokratie­mängeln in Serbien hat.

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Foto: AP / Andrej Cukic „Ich wusste gleich nach Prozessend­e, dass ich gesiegt habe“, frohlockte Šešelj bei einer eilig einberufen­en Pressekonf­erenz in Belgrad. Nach seinem Freispruch kann er sich wieder ganz auf den serbischen Wahlkampf konzentrie­ren. Šešeljs Serbische...

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