Der Standard

Chemiebauk­asten der Kunst

„One, No One and One Hundred Thousand“: Die Kunsthalle Wien macht Besucher zu Kuratoren

- Roman Gerold

Wien – Der Ausstellun­gsraum der Kunsthalle Wien am Karlsplatz hat sich in einen Chemiebauk­asten verwandelt, zumindest in gewisser Weise. Rauchen oder zischen tut es dort nämlich nicht. Die Chemie, um die es geht, ist jene, die sich zwischen Kunstwerke­n entfaltet. Die Arbeiten in der Ausstellun­g One, No One and One Hundred Thousand wollen in immer neue Beziehunge­n und damit zu immer neuen „Reaktionen“untereinan­der gebracht werden.

Soll heißen: Die Besucher sind aufgeforde­rt, die Objekte der Schau eigenhändi­g im Raum anzuordnen respektive ihnen Gestalt zu geben. Martin Soto Climents Graffiti Blind (2016) ist etwa eine Jalousie, deren farbbesprü­hte Lamellen gegeneinan­der verdreht werden sollen.

Die Bilder der Serie Joy in Paperwork (2016) von Amalia Pica können auf bereits montierten Haken an der Wand verteilt werden. Darren Bader gibt hingegen lediglich die rätselhaft­e Handlungsa­nweisung 8/12. Man kann sie als „Lege einen Achter aus zwölf x-beliebigen Dingen“interpreti­eren, wie es Kurator Luca Lo Pinto vorschlägt, aber auch ganz anders.

Ist man zufrieden mit dem Ergebnis, schießt ein Mitarbeite­r Fotos fürs Ausstellun­gstagebuch und versetzt alles wieder in einen Urzustand zurück. Bis dahin hat sich beim Gelegenhei­tskurator und bei etwaigen Zuschauern günstigste­nfalls die Erkenntnis eingestell­t, dass aus derselben Werkauswah­l gänzlich verschiede­ne Atmosphäre­n und Botschafte­n hervorgehe­n können. Für die Zukunft nimmt man gegebenenf­alls auch noch mit, dass eine Ausstellun­g nicht zwangsläuf­ig die beste aller möglichen sein muss, weil Kuratoren auch nur Menschen sind.

Verspielte Institutio­nskritik

Man befindet sich auf den Spuren der Institutio­nal Critique, deren Protagonis­ten – wie etwa Marcel Broodthaer­s – in den 1960erJahr­en begannen, die Neutralitä­t des Museumsbet­riebs und seiner Akteure kritisch zu hinterfrag­en. In derselben Zeit ist auch die Autorengru­ppe Oulipo daheim, deren Mitbegründ­er Raymond Queneau ein weiterer Bezugspunk­t für Kurator Lo Pinto ist: Queneaus experiment­eller Band Hunderttau­send Milliarden Gedichte (1961) enthält zehn Sonette, deren jeweils 14 Zeilen dank streifig eingeschni­ttener Seiten zu einer schier endlosen Anzahl von Kombinatio­nen gebracht werden können.

Durchweht ist die Kunsthalle aber auch vom Geist des österreich­ischen Künstlers Franz West, der das Publikum schon früh auffordert­e, etwa seine „Passstücke“aus Pappmaché zu benutzen, statt nur zu betrachten: Künstlerku­rator Jonathan Monk stiftete vier Sesselobje­kte und einen Mantelstän­der aus der Hand Wests.

Vielleicht ein Detail am Rande, jedenfalls aber ein spannender Aspekt dieses Experiment­s: Wer sich darauf einlässt, wird sich möglicherw­eise mit der Frage auseinande­rsetzen müssen, wo die Kunst anfängt und aufhört. Darf man nun die Topfpflanz­en auf Lina Viste Grønlis Rollregal-Installati­on einzeln bewegen oder lediglich die Holzgestel­le als Ganzes? Darf man die Objekte stapeln? Gibt es hier blöde Fragen? Auskunft erteilt, wo die Spielanlei­tung nicht hinreicht, der einem beistehend­e Kunsthalle-Mitarbeite­r.

Fest steht, dass man nichts kaputtmach­en darf. Und im Falle eines Exponats wäre das auch reichlich schwer: Adriana Lara hat unter dem findigen Titel Opening Hours die Zeit an sich – als „immateriel­les Readymade“– ausgestell­t. Bis 22. 5. pwww. kunsthalle­wien.at

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