Von aktiven „Ersten Männern“einst und heute
Will der Bundespräsident tatsächlich politisch umtriebig sein, dann muss er erhebliches moralisches Gewicht auf die Waage bringen. Das ist bisher den wenigsten in der Hofburg gelungen, aber vielleicht gibt es heuer einen moralischen Überraschungssieger.
Rudolf Kirchschläger dachte, um als Bundespräsident aktiv zu sein, reiche seine Metaphorik von den sauren Wiesen und trockenzulegenden Sümpfen aus. Doch die mit formvollendetem, klagendem Ton vorgetragenen Metaphern waren zu leise und zu wenig druckvoll. Sie wurden überhört, die Regierungen Kreisky und Sinowatz konnten nach jedem seiner „Trockenlegungsaufrufe“getrost, und ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, zur Tagesordnung übergehen.
Thomas Klestil wollte ebenfalls ein aktiver Bundespräsident sein. Doch auch sein diplomatischer Sprachduktus besaß nicht den nötigen politischen Nachdruck, obwohl die Verfassung dem Amt diesen Freiraum gewährt. Als Klestil, der sich als Familienmensch präsentierte, seine Interpretation von Familie zu ausgreifend werden ließ, schwand sein moralisches Gewicht, und seine öffentlich wahrgenommene Integrität war unwiederbringlich erodiert.
Kurt Waldheim hatte es vom Diplomaten zum Uno-Generalsekretär gebracht – an sich eine glänzende Karriere –, doch war ihm nicht das gleiche diplomatische Geschick oder „Glück“beschieden wie Männern vom Schlage eines Günter Grass. Grass, der seine schriftstellerische Karriere im Tandem mit seiner Rolle als moralisches Gewissen Deutschlands aufbaute, hätte vermutlich niemals den Nobelpreis erhalten, wenn er vor seiner Wahl öffentlichkeitswirksam seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS verkündet hätte. Nach Fontane-, Büchner- und ThomasMann-Preis bekannte sich Grass erst Jahre nach dem Nobelpreis öffent- lich dazu. Waldheims unfreiwilliges Wehrmachtsouting erfolgte vor den Wahlen, wodurch er nicht mehr zur moralischen Instanz werden konnte.
Heinz Fischer steigerte sich in seiner zweiten Amtszeit und wurde gegen Ende immer aktiver; als einer der letzten politischen Überlebenden der Ära Kreisky wuchs er in die Präsidentenrolle immer besser hinein. Lediglich seine letzten Aktivitäten, als erster Erster Mann nur wenige Wochen nach Aufhebung der Sanktionen dem Regime in Teheran seine Reverenz zu erweisen, hätte sich der Sozialdemokrat sparen können. Dass dieser Staatsbesuch auch noch unter dem Motto „Wir Österreicher haben die internationalen Sanktionen ja eh nie gewollt!“lief, war angesichts des Teheraner Hinrichtungs-Rekordjahres 2015 ein Schlag ins Gesicht vieler. Die Wirtschaftsdelegation hätte auch ohne ihn dieselben Volumina an Handelsverträgen eingebracht, und Fischer wäre sein aktives Beitragen zur „guten bilateralen Stimmung“erspart geblieben.
Denkt man weiter zurück, dann fällt auf, dass seit 1945 vermutlich nach wie vor Karl Renner – abgesehen von mehreren zweifelhaften politischen Positionen und seiner Bedienung antisemitischer Stereotype – die Rangliste der aktiven Ersten Männer Österreichs anführt.
1914 titelte das britische Wochenmagazin London Opinion den Slogan „Your Country Needs You“, mit dem berühmt gewordenen Porträt Feldmarschall Kitcheners und dessen aus dem Bild auf den Betrachter deutendem Zeigefinger. Die Mobilisierung der britischen Armee für den Kriegseinsatz gegen Deutschland im Ersten Weltkrieg war angelaufen. Ein ganzes Jahrhundert später ziert diese Phrase ausgerechnet ein österreichisches Wahlplakat. Der Slogan „Deine Heimat braucht dich jetzt“schlurft ohne Rufzeichen, Beistrich oder Punkt umher, deshalb ist auch unklar, ob der Leser des Plakats, der abgebildete Kandidat oder beide gemeint sind.
Übertitelt und übertroffen wird diese Phrase des dumpfen Heimatbegriffes nur noch von „Aufstehen für Österreich“. Da eine feindliche Militärmacht nicht im Anmarsch ist, bleiben nicht viele Denkalternativen, um zu ergründen, gegen wen wie ein Mann aufgestanden werden soll. Abgesehen von den positiven Konnotationen des Eintretens für die Inter- essen des Landes und der Menschen ist das Aufstehen kein harmloser Akt. Es bedeutet auch: sich erheben und Abwehrhaltung einnehmen. Doch das Flüchtlings- und das Terrorproblem dürfen nicht zusammengedacht und in eins gesetzt werden!
Verbalradikalismus
Der Tatbestand des Verbalradikalismus des sanften Wortes wäre damit auch 2016 wieder erfüllt. Keine direkten fremdenfeindlichen Reflexe, wie sie aus AfD, NPD, Jobbik oder Pegida zu hören sind. Doch viele aus der schweigenden Mehrheit wissen, wer gemeint ist. Verbalradikalismus des sanften Wortes ist wie ruhiges Fischen im riesigen Menschenteich. Die politischen Fischer sind jene, die Asylbewerber mit dem abwertenden Suffix „ant“zuerst zu „Asylanten“stempeln, um diesen im Handumdrehen als „Scheinasylanten“den ohnehin unsicheren Boden unter den Füßen wegzuziehen. Die schweigende Mitte der Gesellschaft scheint durch ihr Stillschweigen zuzustimmen. Sie bildete in kritischen Phasen der Geschichte bereits wiederholt die Mehrheit. Ihre Zahl wächst.
Vielleicht gibt es 2016 einen moralischen Überraschungssieger als Bundespräsidenten. Etwa dann, wenn der Kandidat oder die Kandidatin vor der Wahl ankündigt, die Hälfte des bescheidenen Jahressalärs von über 330.000 Euro für gute Zwecke zu spenden. Sechs Jahre lang. Das Rennen um das aktive Amt ist eröffnet, Renner sieht gewiss zu.
PAUL SAILER-WLASITS ist Sprachphilosoph und Politikwissenschafter in Wien. Sein neues Buch „Minimale Moral. Streitschrift zu Politik, Gesellschaft und Sprache“erscheint in Kürze.