Stille Rivalität zwischen Erdogan und Davutoglu
Flüchtlingsdeal missfällt dem türkischen Staatschef
ANALYSE: Ankara/Sofia – Das Abkommen funktioniert, freut sich Ahmet Davutoglu, der türkische Regierungschef. Völlig falsch, sagt Staatschef Tayyip Erdogan. Wenn die EU ihre Zusagen nicht einhält, ist es vorbei mit dem Flüchtlingsabkommen. „Es gab Versprechen, aber bisher ist nichts daraus geworden“, polterte der Präsident in einer Rede vor türkischen Polizisten. „Sie versuchen, unser Volk mit Lügen zu beunruhigen“, sagte er über die Europäer.
Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom vergangenen März über die Rücknahme illegaler Migranten von den griechischen Inseln gilt als das vielleicht politisch bedeutendste Projekt der Europäer mit Ankara seit dem Beginn der Beitrittsverhandlungen vor mehr als zehn Jahren. Es könnte ein „game changer“sein, ein Ereignis, das die Spielregeln mit dem bisher schwierigen Partner im Südosten ändert. Eben deshalb zeigt sich nun am Flüchtlingsabkommen die Rivalität zwischen Erdogan und Davutoglu, zwischen dem alles bestimmenden Präsidenten und dem Premier, seinem früheren Außenminister, den er nach der Wahl ins höchste Staatsamt als Statthalter aussuchte.
„Am Montag, dem ersten Tag der Umsetzung, haben wir 202 Flüchtlinge erhalten, und nur zwei von ihnen waren Syrer“, erklärte Davutoglu diese Woche seinen Bürgern. „Im Gegenzug wurden 78 syrische Flüchtlinge in drei europäische Länder geschickt – nach Deutschland, in die Niederlande, nach Finnland.“Die Idee mit dem Handel „Syrer gegen Syrer“reklamiert Davutoglu für sich. Für jeden syrischen Flüchtling, den die Türkei von den griechischen Inseln zurücknimmt, wird ein anderer aus türkischen Lagern nach Europa ausgeflogen; die anderen zurückgenommenen Migranten versucht die Türkei in ihre Herkunftsländer abzuschieben.
„Das haben sie nicht erwartet“, freute sich Davutoglu im März beim Rückflug aus Brüssel vor türkischen Journalisten. Der türkische Premier hatte die Staats- und Offiziell stehen Premier Ahmet Davutoglu (Mi.) und Präsident Tayyip
Erdogan (re.) Seite an Seite. Hinter den Kulissen jedoch gärt es.
Regierungschefs mit seinen Forderungen überrumpelt. Zehn Tage später war der Handel geschlossen – so wie ihn der listige Politikprofessor wollte.
Visafreiheit kommt
Funktioniert alles, ist der Gewinn für den türkischen Premier beachtlich. Er war es dann, der den Türken den greifbaren Vorteil des Abkommens verschafft hat: den schnellen Wegfall des Visazwangs für Reisen in die EU noch Ende Juni. Wenigstens sechs Milliarden Euro sagte die EU zudem der Türkei für Maßnahmen zur Integrierung der syrischen Flüchtlinge zu sowie die Öffnung von Kapiteln bei den Beitrittsverhandlungen. Auf das Geld pocht nun Erdogan. Und die Öffnung weiterer Kapitel bedeute wenig, wenn
sie nie geschlossen würden, kritisiert er nicht zu Unrecht. Dass Davutoglu, den er in die Politik gehievt und dem er seine Partei überlassen hat, nun Erfolg einheimsen könnte, missfällt dem autoritären Staatschef sehr. In den Augen der konservativen Wähler soll es nur einen an der Spitze der Türkei geben – eben Erdogan.
Davutoglus Bemühungen um eine neue Verfassung, die auf den Staatschef zugeschnitten ist – und das Amt des Premiers abschafft – gelten als nicht allzu beherzt. Gerüchte über eine Ablösung durch den Erdogan-Vertrauten Binali Yildirim, derzeit Minister für Transport und Telekommunikation, werden immer wieder gestreut. „Der Chef der AKP bin ich“, versicherte Davutoglu unlängst im Parlament.