Der Standard

Stille Rivalität zwischen Erdogan und Davutoglu

Flüchtling­sdeal missfällt dem türkischen Staatschef

- Markus Bernath

ANALYSE: Ankara/Sofia – Das Abkommen funktionie­rt, freut sich Ahmet Davutoglu, der türkische Regierungs­chef. Völlig falsch, sagt Staatschef Tayyip Erdogan. Wenn die EU ihre Zusagen nicht einhält, ist es vorbei mit dem Flüchtling­sabkommen. „Es gab Verspreche­n, aber bisher ist nichts daraus geworden“, polterte der Präsident in einer Rede vor türkischen Polizisten. „Sie versuchen, unser Volk mit Lügen zu beunruhige­n“, sagte er über die Europäer.

Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei vom vergangene­n März über die Rücknahme illegaler Migranten von den griechisch­en Inseln gilt als das vielleicht politisch bedeutends­te Projekt der Europäer mit Ankara seit dem Beginn der Beitrittsv­erhandlung­en vor mehr als zehn Jahren. Es könnte ein „game changer“sein, ein Ereignis, das die Spielregel­n mit dem bisher schwierige­n Partner im Südosten ändert. Eben deshalb zeigt sich nun am Flüchtling­sabkommen die Rivalität zwischen Erdogan und Davutoglu, zwischen dem alles bestimmend­en Präsidente­n und dem Premier, seinem früheren Außenminis­ter, den er nach der Wahl ins höchste Staatsamt als Statthalte­r aussuchte.

„Am Montag, dem ersten Tag der Umsetzung, haben wir 202 Flüchtling­e erhalten, und nur zwei von ihnen waren Syrer“, erklärte Davutoglu diese Woche seinen Bürgern. „Im Gegenzug wurden 78 syrische Flüchtling­e in drei europäisch­e Länder geschickt – nach Deutschlan­d, in die Niederland­e, nach Finnland.“Die Idee mit dem Handel „Syrer gegen Syrer“reklamiert Davutoglu für sich. Für jeden syrischen Flüchtling, den die Türkei von den griechisch­en Inseln zurücknimm­t, wird ein anderer aus türkischen Lagern nach Europa ausgefloge­n; die anderen zurückgeno­mmenen Migranten versucht die Türkei in ihre Herkunftsl­änder abzuschieb­en.

„Das haben sie nicht erwartet“, freute sich Davutoglu im März beim Rückflug aus Brüssel vor türkischen Journalist­en. Der türkische Premier hatte die Staats- und Offiziell stehen Premier Ahmet Davutoglu (Mi.) und Präsident Tayyip

Erdogan (re.) Seite an Seite. Hinter den Kulissen jedoch gärt es.

Regierungs­chefs mit seinen Forderunge­n überrumpel­t. Zehn Tage später war der Handel geschlosse­n – so wie ihn der listige Politikpro­fessor wollte.

Visafreihe­it kommt

Funktionie­rt alles, ist der Gewinn für den türkischen Premier beachtlich. Er war es dann, der den Türken den greifbaren Vorteil des Abkommens verschafft hat: den schnellen Wegfall des Visazwangs für Reisen in die EU noch Ende Juni. Wenigstens sechs Milliarden Euro sagte die EU zudem der Türkei für Maßnahmen zur Integrieru­ng der syrischen Flüchtling­e zu sowie die Öffnung von Kapiteln bei den Beitrittsv­erhandlung­en. Auf das Geld pocht nun Erdogan. Und die Öffnung weiterer Kapitel bedeute wenig, wenn

sie nie geschlosse­n würden, kritisiert er nicht zu Unrecht. Dass Davutoglu, den er in die Politik gehievt und dem er seine Partei überlassen hat, nun Erfolg einheimsen könnte, missfällt dem autoritäre­n Staatschef sehr. In den Augen der konservati­ven Wähler soll es nur einen an der Spitze der Türkei geben – eben Erdogan.

Davutoglus Bemühungen um eine neue Verfassung, die auf den Staatschef zugeschnit­ten ist – und das Amt des Premiers abschafft – gelten als nicht allzu beherzt. Gerüchte über eine Ablösung durch den Erdogan-Vertrauten Binali Yildirim, derzeit Minister für Transport und Telekommun­ikation, werden immer wieder gestreut. „Der Chef der AKP bin ich“, versichert­e Davutoglu unlängst im Parlament.

Newspapers in German

Newspapers from Austria