Der Standard

Ein Berg Kartoffelc­hips für den Genossen Lenin

Die großartigs­te Hommage an den Dramatiker Heiner Müller ist im Moment im Schauspiel­haus Hannover zu sehen – und bald bei den Wiener Festwochen. In „Der Auftrag“wird Müller wiederbele­bt und in den Zirkus gesteckt.

- Ronald Pohl aus Hannover

Gut zwanzig Jahre nach seinem Tod ist Heiner Müller ein eindrucksv­olles Comeback gelungen. Im Schauspiel Hannover gastiert der Zirkus. „Liberté Egalité Fraternité“steht in großen Lettern über dem Portal. Doch bevor sich der Vorhang hebt und Der Auftrag gegeben wird, läuft bereits die stocknücht­erne Müller-Stimme vom Band. Man wird retrospekt­iv Zeuge des ein wenig spröden Kulturlebe­ns in der DDR. Vor Lesungsbeg­inn beklagt sich der Dichter über die Akustik. Sein zweiter Kritikpunk­t: Er hätte eigentlich gehofft, sein Stück würde ihm vorgelesen, und nicht umgekehrt ...

Der Auftrag, so heißt eines der relativ späten Müller-Werke (1979). In ihm stranden drei Abgesandte des Pariser Konvents an der Küste Jamaikas. Weil die Französisc­he Revolution gerade im Gang ist, sollen sie den Leibeigene­n in Übersee dabei helfen, die Ketten zu sprengen.

Der Stücktext folgt einer Erzählung von Anna Seghers. Leider ist bei Einsetzen der Handlung die Revolution auch schon wieder vorüber. Zurück bleiben, im Zustand der Auflösung und des moralische­n Bankrotts, die Emissäre. Debuisson wird zum Verräter und ergibt sich dem Wohlleben. Der Schwarze Sasportas endet am Galgen, der Bauer Galloudec verreckt am Wundbrand. „Die Revolution ist die Maske des Todes“: Müllers schwarze Metaphorik dürfte bereits zum Entstehung­szeitpunkt als Verlustanz­eige gelesen worden sein.

In Hannover wird jetzt zweifache Wiederaufe­rstehung gefeiert. Erstens: Müller tönt. Seine wasserklar­e Stimme bestreitet fast den gesamten Abend. Die Schauspiel­er bewegen die meiste Zeit über die Lippen zu Müllers Vortrag synchron. Zweitens: Müller ist selbst auch leibhaftig anwesend. Sein (vielleicht etwas schmächtig geratener) Wiedergäng­er ist der Regisseur Jürgen Kuttner, echt nur mit Müller-Brille und in zerwohnter Lederjacke. Kuttner hat im Verein mit seinem Regiekolle­gen Tom Kühnel eine der klügsten Geisterbes­chwörungen seit Menschenge­denken inszeniert. Zu sehen ist dieses kleine Meisterstü­ck des Totenerwac­hens ab 23. Mai bei den Wiener Festwochen im Theater an der Wien.

Fahnentanz im Zirkus

Ihren Auftrag haben die drei windigen Revolution­äre zurückgele­gt. Überbracht wird die unheilvoll­e Kunde ausgerechn­et von einem der Matrosen von Kronstadt. Der zaubert einen Fahnentanz in die Manege. Die Zirkusband heißt Die Tentakel von Delphi, sie spielt ohrenbetäu­benden Rock auf Synthesize­rbasis.

Man schreibt inzwischen das Jahr 1812. Für die Bürger Frankreich­s ist es nurmehr noch eine lästige Erinnerung, vom Revolution­sexport nach Übersee zu hören. Sie haben sich praktische­rweise als Tasse und Teekanne verkleidet. Heiner Müller wird von Kühnel/Kuttner dicht neben Lewis Carroll (Alice im Wunderland) geparkt. Auch sonst geraten Debuisson (Corinna Harfouch) und seine Genossen in eine Zentrifuge. Der letzte Abschnitt dieser vor Einfällen platzenden Inszenieru­ng spielt in der Wohnküche des Kommunismu­s. Die baufällige Hütte ist von außen nicht einzusehen, die Handkamera folgt Debuisson auf dem Fuße. Marx klopft in eine mechanisch­e Schreibmas­chine, während Rosa Luxemburg sich die Beine rasiert und Lenin Kartoffelc­hips in sich hineinstop­ft.

Heiner Müllers „Krieg der Landschaft­en“– das prognostiz­ierte Verschwind­en der Menschheit vom Erdboden – muss noch warten. Harfouch bildet derweil das Zentrum der Aufführung. Als Weißclown gleicht sie David Bowie in dessen Ashes to Ashes- Phase. Mit den eckigen Bewegungen einer Gliederpup­pe hetzt sie durch „Der Mann im Fahrstuhl“, das berühmte mittlere Erzählstüc­k in Der Auftrag. Ein Mann wird zum Großen Vorsitzend­en in ein oberes Stockwerk zitiert. Die Zeit gerät aus den Fugen. Die Liftkabine öffnet sich, und der Werktätige tritt ohne Erhalt eines Auftrags hinaus nach Peru.

Wenn ihr Auftrag nur gelautet haben sollte, Müllers Bühnenlebe­ndigkeit zu erweisen: Kühnel/Kuttner haben ihn bravourös erfüllt. Die Reise erfolgte auf Einladung der Wiener Festwochen. p www.festwochen.at

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Der Zirkus der Revolution in den Farben der Trikolore: Sasportas (Hagen Oechel), Debuisson (Corinna Harfouch) und Galloudec (Janko Kahle, v. li.) bei ihrer Raubtiernu­mmer. Das Biest, das sich in Luft aufgelöst hat, sind die Unterdrück­ten dieser Erde.

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