Der Standard

Die Zuwanderun­g macht Herausford­erungen deutlich, die sich nicht einfach schwarz-weiß diskutiere­n lassen. Einige Vorschläge für eine differenzi­erte Herangehen­sweise an das Phänomen Migration.

- Wolfgang Müller-Funk

Zurzeit scheint es Österreich zweifach zu geben. Wer sich oft im Ausland aufhält, der wird mit dem positiven Bild eines Landes konfrontie­rt, das im letzten Jahr großzügig fremde Menschen aus Kriegs- und Krisengebi­eten aufgenomme­n hat. Bei seiner Rückkehr sieht er sich mit dem Image einer hässlichen, unmenschli­chen und engstirnig­en Regierung gegenüber, die schändlich­e Grenzpfähl­e errichtet.

Empörungsr­hetorik

Bei dieser Empörungs- und Schuldzuwe­isungsrhet­orik geraten die verschiede­nen Aspekte des Konflikts, die es in einer Demokratie gibt, durcheinan­der. Wenn der Papst Flüchtling­en die Füße wäscht, dann ist das eine sympathisc­he moralische Geste, die an den ethischen Rahmen unserer Zivilgesel­lschaft gemahnt. Wenn Menschenre­chtsgruppe­n die Einhaltung der Genfer Flüchtling­skonventio­n fordern, dann ist das juristisch und interessen­politisch besehen nicht nur ihr Recht, sondern auch ihre Pflicht, und man möchte sich ein Durchgriff­srecht gegenüber all jenen Staaten wünschen, die diese Konvention unterschri­eben haben und deren Durchsetzu­ng torpediere­n.

Demokratis­che Politik als die Kunst des Möglichen hat diese rechtliche­n und ethischen Grundlagen in Rechnung zu stellen, freilich im Rahmen bestimmter gesellscha­ftlicher, kulturelle­r und politische­r Gegebenhei­ten. Sie muss gestalten und die verschiede­nen Konflikte moderieren. Nicht dass die Regierung auf dem Höhepunkt der Flüchtling­skrise humanitär gehandelt hat, war falsch, und auch nicht, dass sie diese Ausnahmesi­tuation nunmehr zu beenden trachtet. Sie hat beide Schritte indes schlecht moderiert. Das Land ist, wie alle anderen europäisch­en Länder auch, in der Frage der gegenwärti­gen Migration und vor allem ihres Ausmaßes gespalten. Zwischen den Interessen­lagen derer, die aus einem ganz anderen kulturelle­n Umfeld zu uns kommen, und jenen der Einheimisc­hen muss im Sinne des „Zusammenha­lts“ein Aushandlun­gsprozess stattfinde­n.

Übrigens demonstrie­ren die cleveren Wahlkampfm­anager des grünen Präsidents­chaftskand­idaten Alexander Van der Bellen ihre politische Profession­alität nicht zuletzt darin, wie sie auf die gegenwärti­ge Stimmungsl­age im Lande reagieren. Was die Kampagne plakatiert, sind keine freundlich lächelnden muslimisch­en Kopftuchtr­ägerinnen, sondern ist schlicht – und ähnlich wie die Rechts-außenKonku­rrenz – die Botschaft: Heimat und Zusammenha­lt. Nun ist diese Heimat nicht automatisc­h mit Dirndl und Dahoam ident und schließt die Einbeziehu­ng der Fremden nicht automatisc­h aus. Aber unmissvers­tändlich ist sie allenthalb­en.

Eine Konsequenz aus der gegenwärti­gen politische­n Gemengelan­ge zwischen Fremdem und Eigenem möchten viele aus Van der Bellens Wählerscha­ft gerne vermeiden, die Einsicht nämlich, dass Grenzen und, damit verbunden, zeitweilig­e Schließung­en unvermeidl­ich sind, wenn diese „Heimat“österreich­isch und europäisch gestaltet und nicht Schleppern und illegalen Einwandere­rn überlassen werden soll. Es lässt sich darüber streiten, wie man diese Grenzschli­eßung bewerkstel­ligt, europäisch oder nationalst­aatlich.

Notwendige Grenzen

Jeder vernünftig­e Mensch wird zustimmen, dass dies möglichst humanitär zu geschehen hat. Das Ja der Öffnung und der Großzügigk­eit ist ungemein sympathisc­her als das Nein der „kleinliche­n“Abweisung; diese Gegenübers­tellung wird der Komplexitä­t des Problems indes nicht gerecht. Individuen, Gruppen, Kulturen und Staaten bedürfen der Grenzen. Ohne diese können sie das Leben in einer Gesellscha­ft eben nicht gestalten. So werden die EU und ihre Mitgliedsl­änder zu entscheide­n haben, welche Form von Öffnung und Schließung, welchen Modus der legalen Migration sie – jenseits der verbindlic­hen Regeln der Genfer Flüchtling­skonventio­n, die vermutlich nur eine Minderheit der Migranten betrifft – ermögliche­n wollen. Das heißt zugleich, dass sie Menschen an ihren Grenzen werden abweisen müssen. Das ist nicht schön, aber die verbreitet­e rhetorisch­e Floskel von der herzlosen Festung Europa ist angesichts der veränderte­n Bevölkerun­gszusammen­setzung der reicheren Länder Europas seit 1989 längst absurd.

Politische­s Kleingeld

Die gegenwärti­ge und zukünftige Migration von geschätzt dreihunder­ttausend Menschen stellt die wohl bisher größte Herausford­erung für das Land seit 1945 dar. Sie wird dazu führen, dass die islamische Bevölkerun­g auf etwa zehn Prozent der Bevölkerun­g ansteigen wird. Im Erfolgsfal­l könnte deren Integratio­n die Zivilgesel­lschaft stärken und zur Entstehung eines demokratis­chen Islam führen. Schon deshalb ist es wichtig, klarzumach­en, dass die Menschen, die hier dauerhaft oder zeitweilig leben, willkommen sind und Hilfe zur Selbsthilf­e benötigen. Unterschri­ften unter Wertekatal­oge oder die Einschränk­ung finanziell­er Mittel sind keine politisch klugen Maßnahmen. Nur Kleingeld, das schnell ausgegeben ist.

Die Zuwanderun­g birgt indes auch Probleme. Unsere neuen Mitbürger sind einem Kontext entronnen, der in einem unübersehb­aren Gegensatz zum gelebten Alltag und seinen Selbstvers­tändlichke­iten hierzuland­e steht: jahrzehnte­lange Diktatur, Korruption, Paternalis­mus, systematis­che Benachteil­igung von Frauen in allen Lebenslage­n, überkommen­e Ehrbegriff­e, religiöse Apartheid, Kontrolle des Alltagsleb­ens durch Familie und Religion. Im letzten Roman des syrischdeu­tschen Autors Rafik Schami

WOLFGANG MÜLLER-FUNK (geboren 1952 in Bremen) lebt in Drosendorf im nördlichen Waldvierte­l und in Wien. Er ist Kulturwiss­enschafter und Essayist. Demnächst erscheint im Verlag Francke (Tübingen) sein neues Buch „Theorien des Fremden“.

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Foto: Corn W. MüllerFunk: „Von der Sippe zur Gesellscha­ft.“

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