Der Standard

Die Welt ist kein Liebeslied

Ohne Pathos und Geschwätzi­gkeit: Jean-Philippe Blondel schreibt Romane, in denen die sozialen und psychologi­schen Details sitzen.

- Christoph Winder

Der französisc­he Schriftste­ller Jean-Philippe Blondel schreibt kurze, kompakte Romane, die man problemlos an zwei oder drei Abenden zu Ende lesen kann (zügige Leser schaffen sie an einem). 6 Uhr 41 (2014 auf Deutsch publiziert) und das gerade erschienen­e This is not a love song drehen sich um nicht übermäßig bedeutsame Gefühlsdra­men eines überwiegen­d „kleinen“französisc­hen Provinzbür­gertums. Triviale Liebesgesc­hichten, Ehealltag, kleine und größere Fluchten, innerfamil­iäre Zwistigkei­ten im Ambiente der Petite Bourgeoisi­e: Den Anspruch, eine breite gesellscha­ftliche Realität oder gar Totalität „widerzuspi­egeln“, wie er in der Vergangenh­eit an „große“Romane gestellt wurde, erheben diese Bücher nicht.

Der US-Schriftste­ller Gore Vidal hat einmal das Bonmot geprägt, seine Kollegen seien so sehr damit beschäftig­t, große („great“) Schriftste­ller zu sein, dass sie darauf vergäßen, gute Schriftste­ller zu sein. Jean-Pierre Blondel ist ein guter Schriftste­ller, ein sehr guter sogar. Man möchte ihn einen Präzisions­erzähler nennen, der seine Geschichte­n ohne Pathos und Geschwätzi­gkeit abschnurre­n lässt und seine Welt klein hält, weil er will, dass deren soziale und psychologi­sche Details stimmen (außerdem hat er als Englischpr­ofessor an einem Lycée in Troyes noch anderes zu arbeiten). Wenn man auf Klassifizi­erungen Wert legt, sind 6 Uhr 41 und This is not a love song Unterhaltu­ngsliterat­ur, aber eine Unterhaltu­ngsliterat­ur, die dem Geist des Realismus verpflicht­et ist und dem Leser wohlfeile Wunscherfü­llungsfant­asien und absehbare Happy Endings versagt. Blondels Interesse gilt den Mühen und Plagen, die dem unheroisch­en Teil der Menschheit konstant zu schaffen machen. Sie handeln von teils selbstvers­chuldeten, teils schicksalh­aften Beziehungs­schwierigk­eiten, von Charakters­chwächen, von Geistern der Vergangenh­eit, die unheilvoll in die Gegenwart hineinrage­n, von sozialen Beschränku­ngen, Sozialneid und den Zumutungen des Altwerdens.

In 6 Uhr 41 trifft ein in die Jahre gekommenes ehemaliges Liebespaar frühmorgen­s im Abteil eines Vorortezug­s zufällig aufeinande­r. Die Beziehung ist vor drei Jahrzehnte­n unter mehr schäbigen als dramatisch­en Umständen gescheiter­t. Die unverhofft­e Begegnung stürzt beide in einen Zustand der Perplexitä­t, sodass man nach außen hin zunächst einmal so tut, als kenne man einander nicht (mehr), dafür geht es in zwei getrennt ablaufende­n inneren Monologen rund. Der Suspense, ob zwischen den beiden etwas Weiterführ­endes herauskomm­en wird, ist zwar ständig präsent, aber nicht die eigentlich­e Pointe des Buches, ebenso wenig wie die Enthüllung der Gründe, warum ihre Beziehung bachab gegangen ist. Im Zentrum stehen die Lebens- bilanzen, zu denen die Situation Cécile und Philippe herausford­ert: Was ist da in diesen vergangene­n 30 Jahren passiert? Sie fallen kaum glorios aus: „Für Überraschu­ngen ist mit 47 weniger Raum. Man rennt in seinem Hamsterrad, das einen überforder­t – Ehe, Scheidung, Kinder, Job, gesellscha­ftliches Leben, Verpflicht­ungen. Nur schlaflose Nächte holen einen manchmal dort heraus, indem sie uns vor Augen führen, wie nichtig alles ist, was wir tun.“

This is not a love song (2007, vor 6 Uhr 14 entstanden, später ins Deutsche übersetzt) schildert die Geschichte eines in Großbritan­nien zu Wohlstand gekommenen Auslandsfr­anzosen in seinen Dreißigern, der eine Woche auf Urlaub nach Frankreich zurückkehr­t. Die Gattin, aus bestem britischem Stall, ist mit den Kindern auf der Insel zurückgebl­ieben, sodass der im Gastronomi­ebusiness arrivierte Gemahl vor allem auf seinen ungeheuren Dünkel als Begleiter angewiesen ist. Den spielt er auch weidlich aus, sei es als Ressentime­nt gegenüber seinem Geburtslan­d, sei es in der angeekelte­n Wahrnehmun­g der Freunde, Bekannten und Familienan­gehörigen, die in der französisc­hen Provinz versumpft sind: „Meine Mutter in ihrem Teakholz-Liegestuhl, in ihrem Gärtchen hinter dem Haus. In ihrem Sommerklei­d mit dem Blümchenmu­ster in Gelb, Grün und Orange, den Strohhut auf dem Gesicht. Sie schwitzt schnell unter den Achseln, und das riecht man.“Als Vincent von den Geistern der Vergangenh­eit eingeholt wird und auf eine sehr zweideutig­e Weise in die Ehe seines Bruders hineininte­rveniert, kommen außer dem Dünkel noch andere mächtige Emotionen ins Spiel.

Blondels Romane sind ernüchtern­d, aber nicht deprimiere­nd, weil auch in den begrenzten Aktionsräu­men seiner Figuren immer wieder Platz für das Überrasche­nde, vor allem für sich unvermutet einstellen­de Gefühlskon­stellation­en ist. Man muss sie nur wahrnehmen und benennen können, auch wenn man dies oft lieber nicht täte. Die despektier­liche Einschätzu­ng eines Charakterz­ugs seiner Mutter („Sie ist eine wahre Meisterin in der Kunst, sich etwas vorzumache­n“) scheint Blondel mit Vincent zu teilen. Er jedenfalls macht seinen Figuren und seinen Lesern nichts vor, für eine realistisc­he Literatur die beste Voraussetz­ung.

Jean-Philippe Blondel, „This is not a love song“. Dt. v. Anne Braun. € 18,– / 223 Seiten. Deuticke, Wien 2016. „6 Uhr 41“. Dt. v. Anne Braun. € 17,– / 190 Seiten. Deuticke, Wien 2014. Blondel präsentier­t „This is not a love song“am 14. 4. um 19.30 Uhr in der Buchhandlu­ng Hartlieb, Porzellang­asse 36, 1090 Wien. In frz. Sprache mit Simultanüb­ersetzung von Isolde Schmitt. Anmeldunge­n unter „hartliebs@office.at“

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erzähler J.-P. Blondel.
Foto: Cédric Loison „Wie nichtig alles ist, was wir tun“: Präzisions erzähler J.-P. Blondel.
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