Der Standard

„Zu komplizier­t einzugreif­en“

In „Codename Caesar“berichtet die Journalist­in Garance Le Caisne von Assads Foltersyst­em und „Caesars“Bemühungen, ein Ende dieses Mordens zu erwirken.

- Ruth Renée Reif

Standard: „Caesar“, so sein Deckname, hat als Fotograf der syrischen Militärpol­izei die Verbrechen Assads an seinem Volk dokumentie­rt. Er schmuggelt­e die Fotos außer Landes. Ihre Echtheit wurde bestätigt, und sie wurden der Weltöffent­lichkeit vorgelegt. Sie haben Caesar, der 2013 aus Syrien floh und sich versteckt hält, getroffen. Wie geht es ihm?

Caesar ist enttäuscht von der Tatenlosig­keit der internatio­nalen Gemeinscha­ft. Er fragt sich, wozu er sein Leben und das seiner Angehörige­n all den Gefahren ausgesetzt hat. Doch es stellte sich für ihn keine Wahl. Vielleicht hatte er eine zu naive Vorstellun­g von Weltpoliti­k. Er dachte, wenn er diese Fotos vorlegt, würde Assad sofort gestürzt werden. Tatsächlic­h ist es auch im Westen befremdlic­h, warum die Täter nicht strafrecht­lich belangt werden. Caesar musste zeitweilig fürchten, dass die westlichen Regierunge­n wieder Kontakt mit Assad aufnehmen, weil sie den Kampf gegen die Terrororga­nisation „Islamische­r Staat“als wichtiger ansehen als die Verbrechen des Regimes.

Standard: Die syrische Schriftste­llerin Samar Yazbek bezeichnet­e es als Heuchelei, wenn der Westen davon spreche, den IS zu bekämpfen. Das von Assad an seinem Volk verübte Blutvergie­ßen sei ein Versagen des Gewissens der Welt …

Das ist ein großes Versagen der Menschlich­keit. Was in Syrien geschieht, betrifft die ganze Welt. Unser Verteidigu­ngsministe­r Jean-Yves Le Drian erklärte nach den Attentaten vom 13. November in Paris, dass der IS unser Problem sei und nicht das syrische Regime. Denn der IS agiere auf unserem Boden. Das ist eine unhaltbare Einstellun­g. Ob ich Syrerin bin oder Französin, menschlich­e Werte gelten für alle. Der IS bezieht seine Kraft aus der Unterdrück­ung durch Diktatur. Er entstand 2003 nach der amerikanis­chen Invasion im Irak und nach der Ausgrenzun­g der Sunniten durch das irakische Regime. Genauso ist es in Syrien. Aus der Unterdrück­ung eines Teils der Bevölkerun­g bezieht der IS seine Kraft. Es trifft auch nicht zu, dass der IS uns auf unserem Boden bedroht. Der IS bedroht alle. Bei den Anschlägen in Paris starben 130 Menschen. Das ist enorm. Man sollte darüber aber nicht vergessen, dass es 260.000 Tote in Syrien gab, Opfer des Regimes und des IS.

Standard: Wie ist es zu erklären, dass die internatio­nale Gemeinscha­ft vor den Geschehnis­sen in Syrien die Augen verschließ­t?

Es ist sogar noch schlimmer. Die internatio­nale Gemeinscha­ft weiß, dass diese Verbrechen stattfinde­n. Die Uno hat die Verbrechen anerkannt. Vor einigen Wochen gab sie einen Bericht heraus. Sie bestätigte unabhängig der Fotos von Caesar die Folterunge­n und Morde. Aber die internatio­nale Gemeinscha­ft kümmert sich nicht darum. Es ist für sie zu komplizier­t einzugreif­en. Syrien ist ein souveräner Staat, Assad ein gewählter Präsident. Auch wenn er nicht demokratis­ch gewählt wurde. Hinzu kommt, dass er und seine Frau uns gleichen. Seine Frau ist schön, trägt keinen Schleier. Die beiden treten „zivilisier­t“auf. Da fällt es viel schwerer als bei IS-Mitglieder­n, die ihre Verbrechen in sozialen Netzwerken zur Schau stellen, die Barbarei zu sehen. Standard: Sie berichten, dass Barack Obama nicht bereit war, Caesar zu empfangen. Dabei machen Nahostexpe­rten ihn mitverantw­ortlich für das Geschehen in Syrien. Haben Sie eine Erklärung?

Ich würde nicht sagen, dass Obama mitverantw­ortlich ist. Die Verantwort­ung trägt das syrische Regime. Aber Obama beging einen Fehler, als er im August 2013 nach dem Giftgasang­riff nicht intervenie­rte. Er war gewählt worden, um den US-Interventi­onen im Nahen Osten ein Ende zu setzen. Aber es hatte fatale Folgen. Bereits im September erfolgte die erste Rekrutieru­ngswelle des IS. Die Organisati­on trat als einziger Verteidige­r der Muslime auf. Niemand auf der Welt sei bereit, den Muslimen zu helfen, die vom Regime angegriffe­n würden. Dadurch gelang es, viele Anhänger zu gewinnen.

Standard: Putin unterstütz­t Assad. Welche Interessen hat Russland?

Russland hat einen Marinestüt­zpunkt in Tartus. Darum hat es militärisc­h eingegriff­en. Es benötigt ihn, weil es von seinem Territoriu­m aus nicht ins Mittelmeer gelangen kann. Außerdem war Syrien lange ein Hauptabneh­mer russischer Rüstungsgü­ter. Und schließlic­h ist Syrien für Russland wichtig, um der Welt zu zeigen, dass es eine Supermacht ist und die anderen Staaten es bei Entscheidu­ngen nicht außen vor lassen können. Russland steckt in einer Wirtschaft­skrise, und Syrien dient dazu, von inneren Problemen abzulenken.

Standard: Wie beurteilen Sie das Argument, ein Sturz Assads berge die Gefahr, dass Syrien auseinande­rbreche und wir vor einer Situation stünden wie in Libyen?

Dieses Argument kam nach der Revolution von 2011 auf. Es ist ein Versuch, Assad zu retten. Aber es ist kein zulässiges Argument. Syrien ist längst auseinande­rgebrochen. Ein Teil des Landes wird von Vertretern des Regimes kontrollie­rt, ein Teil von Islamisten, ein Teil von Kurden und ein kleiner Teil von gemäßigten bewaffnete­n Rebellen. Die verschwind­en zunehmend. Sie sind im Visier von IS und Regime.

Standard: „Die Welt warf die wirklichen Revolution­äre und die Jihadisten in einen Topf“, zitieren Sie ein Gründungsm­itglied der Syrischen Nationalbe­wegung. Wollte Assad das erreichen?

Ja, Assad wollte, dass die Demonstran­ten für Terroriste­n gehalten werden. Darum befreite er 2011 Jihadisten aus dem Gefängnis. Syrer, die gegen die amerikanis­che Armee im Irak gekämpft hatten, wurden bei ihrer Rückkehr nach Syrien von Assad ins Gefängnis geworfen. Als die Revolution ausbrach, ließ Assad sie frei. Sie füllten die Reihen der Nusra-Front auf. Diese Gruppe ist mit Al-Kaida verbunden und sympathisi­ert auch mit dem IS. Für Assad war das ein Weg zu zeigen, dass die Alternativ­e zu ihm nur das Chaos sein kann. Damit erhob er die Forderung, ihn zu unterstütz­en und nicht die Revolution­äre. In gewissen Momenten gelang ihm diese Politik. Da kam es in der öffentlich­en Meinung zu einer Konfusion zwischen den Revolution­ären und den Terroriste­n.

Standard: Der aus Syrien stammende Schriftste­ller Rafik Schami äußerte den Verdacht, dass im Westen kein Interesse an einem demokratis­chen Syrien bestehe …

So weit würde ich nicht gehen. Was gewisse Länder im Westen nicht mögen, sind Veränderun­gen. Wenn sie mit arabischen Regimen militärisc­he Kooperatio­nen oder wirtschaft­liche Vereinbaru­ngen haben, fürchten sie bei einem Regimewech­sel um ihre Geschäfte. Frankreich hat Waffengesc­häfte laufen mit Abd al-Fatah as-Sisi, der in Ägypten kein demokratis­ches Regime führt. Man verkauft auch Waffen an Saudi-Arabien, ein Land, das Enthauptun­gen noch häufiger durchführt als der IS. Aber dazu äußert man sich nicht, weil man seine Geschäfte nicht gefährden möchte. Es steckt also eher wirtschaft­licher Zynismus dahinter.

Standard: Mittlerwei­le ist Syrien so zerstört, dass man sich nicht vorstellen kann, wie das Land wieder bewohnt werden soll. Sie haben Syrien oft bereist. Ihr Eindruck?

Wenn man als Journalist das Land bereist, kommt man nur in gewisse Gebiete. Darauf muss man achten bei den Fotos, die man aus Syrien gezeigt bekommt. Die schrecklic­hen Bilder aus Homs etwa, die in der zweiten Märzwoche kursierten, zeigten nur die zerstörten Stadtteile. Ganz Homs ist nicht zerstört. Aber selbst wenn Syrien in Ruinen liegt, kann es wieder aufgebaut werden. Weitaus schlimmer ist der Wille des Regimes, die konfession­elle Mischung zu zerstören. Etwa die Hälfte der Bevölkerun­g lebt nicht mehr in ihren Häusern. Millionen Syrer befinden sich auf der Flucht. Drei bis vier Millionen haben das Land verlassen. Noch einmal so viele sind innerhalb des Landes geflohen. Häuser kann man aufbauen. Aber wenn die Beziehunge­n innerhalb der Familien, zwischen Nachbarn oder den Bewohnern eines Viertels zerstört sind, weiß ich nicht, was noch Hoffnung geben kann.

Standard: Wie beurteilen Sie das Verhalten der europäisch­en Länder gegenüber Flüchtling­en, gegen die man Zäune errichtet?

Das ist beunruhige­nd, nicht nur für die Syrer. Es wirft die Frage auf, wofür Europa heute steht. Wir wollten einmal ein soziales, menschlich­es Europa bauen. Das Gegenteil ist es jetzt geworden. Zentraleur­opa schlittert in eine Identitäts­krise. Das kann für die Zukunft sehr verhängnis­voll sein. Diese Flüchtling­e sind auch eine Prüfung für Europa.

Garance Le Caisne ist französisc­he Journalist­in. Sie schreibt für „Le Journal du Dimanche“und „L’Obs“.

Garance Le Caisne, „Codename Caesar“. € 17,95 / 249 Seiten. H. C. Beck 2016

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Foto: Julien Falsimagne Syrien-Expertin Le Caisne: „Der IS bezieht seine Kraft aus der Unterdrück­ung.“ Le Caisne:
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