Vom Aufbegehren
Frappierend, bestürzend, erschreckend und zugleich faszinierend ist die Übereinstimmung des Vergangenen mit dem Gegenwärtigen angesichts historischen Bildmaterials von Erich Lessing: Ungarn 1956 zeigt in klaren, archaischen Schwarzweißfotos die Entwicklung von Aufstand, Revolution und Freiheitskampf in einem geteilten Europa. Lessing dokumentierte damals als Erster und Einziger die sozialen und politischen Metamorphosen in unserem Nachbarland. Als sensibler Seismograf realisierte er die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem kommunistischen Regime, die Ära des Aufbruchs nach Stalins Tod – und die Niederschlagung durch die Besatzer und Machthaber. Lessing, selbst 1938 als 15-Jähriger vor den Nazis geflohen, selbst vertrieben und entwurzelt, zeigt in seinen Serien die Menschen in ihrer Auflehnung, ihrer Resignation und schließlich auf der Flucht. Erschreckend, abgesehen von der historischen Komponente der als bekannt vorauszusetzenden Historie, ist aber vielmehr, wie die Bilder von einst jenen von heute ähnlich sind.
Der mit Stolz geführte Freiheitskampf mündete zuletzt in einen Exodus tausender Ungarn. Ist der erste Teil des Buches von schwingenden Fahnen, wehenden Fäusten und starken Parolen geprägt, wechselt der Fokus dann auf das Schicksal Einzelner, Gestrandeter. Augenscheinlich aber wird der Unterschied in der Demut der Flüchtenden damals im Gegensatz zum offen zur Schau getragenen Unmut und zur Ungeduld von heute. Michael Gehler kommentiert fachlich Lessings ikonografische Dokumente der Zeitgeschichte. Im Frühjahr 1956 begann es in Ungarn zu gären. Ende ’56 war die Revolution vorüber. Das Streben nach Unabhängigkeit aber überdauerte die Zeit des Kalten Krieges. Aus Geschichte kann man lernen. Gregor Auenhammer
Erich Lessing & Michael Gehler, „Ungarn 1956. Aufstand, Revolution und Freiheitskampf“. € 36,– / 272 Seiten. Tyrolia, Innsbruck 2016. Buchpräsentation: Montag, 11. April 2016, 19 Uhr im Balassi-Institut, Collegium Hungaricum, Wien 2, Hollandstraße 4