„Unternehmen agieren wie Umerziehungsheime“
Es wäre klug, den quantitativen Arbeitsbegriff durch einen qualitativen abzulösen, sagt der renommierte Führungsexperte Reinhard K. Sprenger. Deutliche Worte findet er zu Managementmoden.
INTERVIEW:
STANDARD: Kostendruck, Ertragsdruck, Wettbewerbsdruck, Innovationsdruck, Bürokratiedruck, Weltanschauungsdruck. Gerät Unternehmensführung zunehmend zum Management äußerer Einflüsse? Sprenger: Äußerer und innerer Druck sind kaum auseinanderzuhalten. Das Management beschäftigt sich ja zu 90 Prozent mit Problemen, die es selbst erzeugt hat. Dabei geht es vor allem um die Spät- und Nebenwirkungen von organisatorischen Entscheidungen. In den letzten Jahren ist in den Unternehmen allerhand Management-Firlefanz angeschwemmt worden. Viele dieser Praktiken sind übergriffig, infantilisieren den Mitarbeiter, ja therapeutisieren ihn geradezu. Im Prozess des modernen Organisierens sind jedenfalls mehr Distanzen – Räume, Freiräume, Spielräume – verschüttet worden, als sich mit früheren Zivilisationsgewinnen vereinbaren lässt. Dass das die Bürokratiekosten im Unternehmen wuchern lässt, weiß jeder Praktiker.
STANDARD: Betriebliche Strukturen und Abläufe sollen verflüssigt werden. Ist die weitgehende Aufgabe der gewohnten betrieblichen Organisation tatsächlich der Weisheit letzter Schluss? Sprenger: Die Transformation des Unternehmens wird weder über ewig gültige Werte noch über Managementmoden gelingen. Son- dern nur über den Kunden. Erinnert man sich an den Urgrund der Unternehmensgründung, dann kann die Lösung nur heißen: Denken Sie die Organisation vom Kunden her und tun Sie alles, um seine Bedürfnisse zu befriedigen. Welche Ordnung entsteht, wenn sich der externe Kunde einen Produzenten sucht? Wie zentral oder dezentral Sie sind, hängt ab von den Kundenerwartungen – und nicht von kurzsichtigen Effizienzbestrebungen. Und seien Sie skeptisch, wenn jemand vom „Ausrollen“von Initiativen spricht – meist meint er damit Prozesse, die von innen nach außen gedacht sind. Und eben nicht andersherum.
STANDARD: Personelle Puffer als Reaktions- und Sicherheitsreserve gelten als verzichtbar, weil zu teuer. Wird hier nicht am falschen Ende gespart? Sprenger: Organisationen müssen heute mehr denn je damit rechnen, dass überraschende Ereignisse eintreten, die bei aller Anstrengung nicht vorhersehbar waren und die die mühsam stabilisierten Routinen gleichsam über Nacht obsolet werden lassen. Gefragt ist die Fähigkeit zur Mobilisierung zusätzlicher Leistungsressourcen, um unter hohem Zeitdruck bruchhafte Anforderungen meistern zu können. Das Prinzip ist aus der Biologie gut bekannt: Varianz ist aus der Sicht der Selektion immer auch Redundanz – und somit eine Anpassungsreserve. Und dort, wo der menschliche Körper nur ein Organ hat – etwa wie das Herz –, ist unser Überleben im Schadensfall hochgefährdet; haben wir hingegen zwei Organe – etwa wie Nieren –, können wir den Ausfall eines Organ tolerieren. Viele Unternehmen haben sich in den letzten Jahren dieser Reserve aus kurzsichtigen Gründen beraubt. Entsprechend verwundbar sind sie. Wenn ein Unternehmen unter dem allgemeinen Effizienzdruck seine Ressourcen so weit ausdünnt, dass gerade noch der Normalbetrieb aufrechterhalten werden kann, dann ist es für den Zufall nicht gut gerüstet. Also: Effizienz ist wichtig – aber nicht alles.
STANDARD: Führungskräfte im mittleren Management kommen auf Arbeitstage von bis zu 15 Stunden bei erwarteter ständiger Erreichbarkeit auch darüber hinaus. Erlaubt das noch durchdachtes, zukunftsorientiertes Arbeiten? Sprenger: Wir wissen aus der Forschung, dass wir etwa vier bis fünf Stunden täglich produktiv arbeiten können. Alles, was darüber hinausgeht, muss als Routinearbeit nach dem Muster alter Schornsteinindustrien gewertet werden. Dafür wären die meisten Manager überbezahlt. Es ist also klug, den quantitativen Arbeitsbegriff durch einen qualitativen abzulösen und dem Einzelnen ein hohes Maß an Zeitsouveränität zuzubilligen. Entmündigende Fürsorglichkeit wäre dafür der falsche Weg. Aber Selbstbeschränkung, der Mut zum Nein, ist ebenso un- verzichtbar wie Urteilskraft. Angesichts des zu erwartenden DatenTsunamis ist es jedenfalls unmöglich, den Durchblick zu haben. Aber Überblick und Weitblick, die richtigen Filter setzen, Urteilskraft entfalten, darum geht es. Zusammenhänge sehen, Unterscheidungen treffen. Daten sind keine Urteile, Wissen ist nicht Bildung, Korrelationen sind keine Ursachen. Dazu gehört auch der Ausbruch in die Freiheit: „Ich bin dann mal offline.“
STANDARD: Ein normaler Arbeitstag einer Führungskraft spielt sich weitgehend in Meetings ab. Sind sich über den Tag hinziehende Palaver wirklich unverzichtbare Abstimmungs- und Steuerungsinstrumente? Sprenger: In Meetings wird zusammengeführt, was früher getrennt wurde. Der Prozess des Organisierens besteht ja aus Trennung, Arbeitsteilungen und Alternativvernichtungen, die früher einmal sinnvoll erschienen, heute jedoch angesichts veränderter Marktbedingungen neue Probleme erzeugen. Koordinative Aufgaben kann man durch Meetings lösen, kooperative nicht. Das stellt einerseits Fragen nach der Komplexität und sinnvollen Größe einer wirtschaftlichen Einheit, nach ihrer Autonomie und Grenze. Andererseits ist das individuelle Handwerk der Meetinggestaltung gefragt. Denn der Hauptkampf des Meetings gilt ja nicht dem Wettbewerb, schon gar nicht dem Kunden, sondern der Uhr.
STANDARD: Unmittelbare Zielerreichung ist der Taktgeber aller Denkund Handlungsprozesse. Wird damit nicht eine langfristig-weitsichtige Handlungsweise mehr und mehr unterbunden? Sprenger: Ziele sind ein schwieriges Thema, das man nicht in ein paar Sätzen abhandeln kann. Grundsätzlich ging es bei der Einführung der Zielidee in den 50erJahren um das Bündeln von Energie, um Richtungen. Das scheint mir nach wie vor sinnvoll. Aber die Zeiten sind volatiler geworden, und unter diesen Bedingungen sind Ziele oft zu starr. Außerdem erzeugt ihre Verwaltung immense Transaktionskosten, die auf manchen Märkten kaum noch zu rechtfertigen sind. Letztlich würde ich dem Einzelnen noch zu bedenken geben, dass Ziele die Gegenwart vermiesen und langfristig die eigentliche Aufgabe sinnlos machen. Ein hoher Preis. STANDARD: Glänzt eine Führungskraft nicht mit unmittelbaren Erfolgen, darf sie mit ihrem Austausch rechnen. Leistet das nicht einer falschen Personalauswahl Vorschub? Sprenger: Letztlich werden wir alle für Erfolg bezahlt. Nicht für Leistung, nicht für Motivation, nicht für gute Absichten. Das mag nicht immer fair sein, reduziert aber die Komplexität auf Handhabbarkeit. Die Frage ist, was man unter „unmittelbar“versteht. Da muss man wieder Herkünfte sehen, Vorbedingungen, Marktentwicklungen. Grundsätzlich gilt: Nichts, was bleiben soll, kommt schnell. Die Personalauswahl muss also die Einsatzbedingungen kalkulieren. Ein TurnaroundManager muss ganz andere Fertigkeiten haben als ein Abschöpfungsmanager. Niemand ist gut für alles.
STANDARD: Unternehmensführung ist zu einer atemlosen Veranstaltung geworden. Besinnung und, wie Sie in Ihrem neuen Buch „Das anständige Unternehmen“schreiben, Anstand scheinen kaum noch eine Rolle zu spielen. Wohin führt das? Wie wird das enden? Sprenger: Unternehmen agieren zunehmend, als seien sie Kirchen oder Umerziehungsheime. In der Logik der „Vorsorge“– der Zukunftsvorsorge, der Risikovorsorge, der Gesundheitsvorsorge – machen sie durch vielfältige Prozeduren den Mitarbeiter zum Objekt, das „noch nicht“ist, noch nicht ganz vollständig, noch nicht perfekt. Viele Institutionen – und das ist das perfide Verdrehte und Verwirrende daran – maskieren sich dabei mit Menschenfreundlichkeit und Vernunft. Wer mag noch gegen den Feedbackterror die Stimme erheben, gegen die Frauenquote, gegen die obszönen Mitarbeiterbefragungen, gegen den Du-Zwang, gegen die Infantilisierung von Erwachsenen, die sich heute „Coaching“nennt? Umzingelt von fürsorgenden, hilfreichen und wohlmeinenden Institutionen geben viele Menschen völlig freiwillig und arglos ihre Freiheit zugunsten eines Optimierungstraumes auf, aus dem sie vielleicht nicht mehr erwachen werden. Oder eben doch, wenn wir den Anstand durch Abstand wieder ernst nehmen.
REINHARD K. SPRENGER (1953) gilt als einer der profiliertesten Führungsexperten im deutschsprachigen Raum. 1991 erschien „Mythos Motivation“, in dem Motivationspraktiken als Manipulation und Misstrauen erscheinen. Sein aktuelles Werk: „Das anständige Unternehmen“(Deutsche Verlagsanstalt, München 2015, 384 Seiten, € 25,70).