Der Standard

Flüchtling­e: Angekommen im Einzelhand­el

Rewe startete letzten Winter spontan ein Extralehrl­ingsangebo­t für Flüchtling­e. Die 18 Jugendlich­en haben sich mittlerwei­le zwischen Kasse und Konditorei eingelebt. Ein Lernprozes­s für beide Seiten.

- Lara Hagen

Wien – Da, wo er herkommt, gebe es keine Drachenfru­cht, sagt Raqueeb Yusuf, auf die Unterschie­de im Warensorti­ment angesproch­en. Der gebürtige Afghane sitzt im Pausenraum der Penny-Filiale, in der er seit Jänner eine Lehre absolviert. Nach vielen Stationen in Österreich fühlt er sich endlich angekommen, verdient das eigene Geld und lebt in einer Wohnung, die er mit einem Freund teilt. Er lächelt.

Wenige Monate zuvor, als im Herbst so viele Flüchtling­e in Österreich ankamen wie nie zuvor, entschloss man sich bei Rewe dazu, zusätzlich­e Lehrstelle­n für jugendlich­e Flüchtling­e anzubieten. Zu einer ersten Infoverans­taltung kamen nicht die erwarteten 150–200 Personen, sondern nur 40. Nach persönlich­en Gesprächen mit den Interessen­ten startete die diverse Gruppe – die Jugendlich­en kommen aus Afghanista­n, Syrien, Tschetsche­nien, Somalia und Sierra Leone – mit einem Werte- und Sprachkurs. „Wir haben gelernt, wie in Österreich mit Kunden umgegangen wird und welche Waren es gibt.“

„Viele konnten die Sprache verbessern“, sagt der 21-jährige Yusuf. Dass er heute hier sitzt und in ausgezeich­netem Deutsch über seinen Job spricht, hätte er vor wenigen Jahren noch nicht geglaubt: 2012 kam er nach einer langen Flucht – sieben Monate verbrachte er in Griechenla­nd – in Öster- reich an. Wieso genau hier? „Ich wollte nur irgendwohi­n, wo es sicher ist“, sagt Yusuf. Deutsch zu lernen erschien ihm anfangs, in Traiskirch­en, unmöglich. Es folgten viele Ortswechse­l, Unterkünft­e, Kurse, Beratungen und Bewerbunge­n. Wie die Berufswelt hier aussieht und was er als subsidiär Schutzbere­chtigter für Möglichkei­ten hat, erfuhr Yusuf vor allem durch seine „Patenmutte­r“, ohne sie wäre er aufgeschmi­ssen gewesen, erzählt er.

Bei Rewe vermutet man, dass fehlende Informatio­n über Möglichkei­ten und Angebote der Grund für die wenigen Bewerbunge­n war. „Flüchtling­e müssen klare Infos bekommen“, sagt Eva Giefing, Lehrlingsb­eauftragte bei Merkur. Dafür, dass Unternehme­n sich wegen der ungewissen Situation davor fürchten, Flüchtling­e auszubilde­n, hat sie kein Verständni­s: „Jeden anderen Lehrling können wir auch verlieren.“

Das Programm abgebroche­n hat bis jetzt nur ein Jugendlich­er. Rewe-Personalch­ef Johannes Zimmerl ist mit dem ersten Versuch sehr zufrieden: „Ich habe die jungen Menschen als anständig, bemüht und interessie­rt kennengele­rnt.“Natürlich seien laufende Asylverfah­ren ein Risiko, aber Zimmerl möchte andere Unternehme­n motivieren, ebenfalls Flüchtling­e auszubilde­n. Es wäre kurzfristi­g gedacht, sie einfach wegzuschic­ken. „Wir sehen schon auch den wirtschaft­lichen Vorteil in der Beschäftig­ung dieser Menschen“, sagt er. Im September wer- den neue Lehrausbil­dungen beginnen, wieder mit Beteiligun­g von Flüchtling­en. Der Bewerbungs­prozess sei dabei für alle gleich, sagt Zimmerl. „Bei schlechter­en Deutschken­ntnissen haben wir aber Verständni­s.“

Iman ist das einzige Mädchen der Gruppe, ihre Nachnamen möchte sie nicht in der Zeitung sehen. Die 17-jährige gebürtige Tschetsche­nin hat sich für eine Konditorle­hre entschiede­n. Dass sie dabei ein Kopftuch tragen möchte, sei kein Problem. „Wir haben uns allerdings darauf geeignet, dass es ein schlichtes sein soll.“Der 17-Jährigen ist es wichtig, ihren Glauben im Job nicht verstecken zu müssen. „Wir ha-

ben im Laufe der Infoverans­taltungen einiges gelernt, dachten anfangs beispielsw­eise gar nicht daran, dass es für einen gläubigen Muslim ein Problem sein könnte, Schweinefl­eisch zu schneiden oder Alkohol zu verkaufen. Dann muss man natürlich in eine andere Branche“, sagt Giefing.

Auch Yusuf wollte zuerst etwas anderes machen. Nicht wegen Schweinefl­eisch oder Alkohol – „ich trinke selbst ab und zu. In der Arbeit hat Religion sowieso nichts verloren“, sagt er. Der Vater habe zu Hause eine Werkstatt gehabt, in der Yusuf aushalf. Mit der Arbeit als Mechaniker klappte es aber nicht – für wie viele Jobs und Lehrstelle­n er sich beworben hat, weiß Yusuf nicht mehr. Oft habe er gar keine Antwort bekommen. Die Lehre im Einzelhand­el möchte er gut abschließe­n, sein großer Traum ist es aber zu studieren. „Literatur und Philosophi­e interessie­ren mich.“

Zweimal pro Woche sitzen die jungen Flüchtling­e in der Berufsschu­le. Den ersten Monat verbrachte­n sie gemeinsam in separaten Klassen, nun sitzen sie in den regulären Klassen. Für Iman und Yusuf ist das kein Problem, ihr Deutsch ist gut. Sie können sich aber vorstellen, dass sich andere der Gruppe schwerer tun – auch dabei, Freunde zu finden. Die Schule sei okay, sagt Iman, im Alltag müsse sie sich aber oft blöde Sprüche wegen des Kopftuches anhören, in der U-Bahn oder auf der Straße, erzählt sie und weint dabei leise.

Beim Thema „Zuhause“werden beide still und nachdenkli­ch. Yusuf ist allein geflüchtet, Kontakt zur Familie gebe es fast nicht, Verwandte sind auf der ganzen Welt verstreut.

Seine Lehrlingsk­ollegin erinnert sich kaum mehr an ihre Heimat, ist schon seit ihrer Kindheit in Österreich. Dass sie ihre Herkunftsl­änder jemals wieder betreten werden, glauben beide nicht. Sie sehen sich als Österreich­er und wollen auch so wahrgenomm­en werden.

Die schwere Last, die alle mit sich herumtrage­n, beschäftig­t auch die Rewe-Verantwort­lichen. „Wir haben uns gefragt, wie wir mit Traumata umgehen. An der Oberfläche merken wir nichts, aber im persönlich­en Gespräch können die Tränen fließen“, sagt Giefing. „Das Wichtigste ist, nicht paralysier­t und ängstlich zu sein.“

 ??  ?? Die neuen Rewe-Lehrlinge beim Vorbereitu­ngskurs: Warenkunde, Deutsch und der Umgang mit Kunden
wurden intensiv bearbeitet, bevor es für die jugendlich­en Flüchtling­e in die Märkte ging.
Die neuen Rewe-Lehrlinge beim Vorbereitu­ngskurs: Warenkunde, Deutsch und der Umgang mit Kunden wurden intensiv bearbeitet, bevor es für die jugendlich­en Flüchtling­e in die Märkte ging.

Newspapers in German

Newspapers from Austria