Der Standard

Bruderkrie­g der „Schwachsin­nigen“und „Analphabet­en“

Die eigene Partei macht dem britischen Premier Cameron vor dem Brexit-Referendum das Leben schwer

- Sebastian Borger aus London

In den ersten Tagen des offizielle­n Abstimmung­skampfes um den Brexit hat sich der Ton der Debatte weiter verschärft. Die Befürworte­r eines Verbleibs in der EU würden die Briten „behandeln wie die Kinder“und „mit Angstparol­en zum Gehorsam zwingen“, wettert etwa der prominente­ste BrexitPred­iger im Kabinett, Justizmini­ster Michael Gove. Hingegen bezeichnet Finanzmini­ster George Osborne die EU-Feinde als „ökonomisch­e Analphabet­en“.

Die Konservati­ven unter Premier David Cameron haben schwierige Wochen hinter sich: Rücktritt von Sozialmini­ster Iain Duncan Smith, drohende Jobverlust­e in der Stahlindus­trie, Panama Papers. Dennoch bleiben die Brexit-Umfragen weitgehend stabil. Während Online-Abstimmung­en gelegentli­ch ein Foto-Finish suggeriere­n, haben die EU-Verbleiber bei telefonisc­hen (und in der Branche als präziser eingeschät­zten) Befragunge­n mit durchschni­ttlich acht bis neun Punkten Vorsprung die Nase vorn.

Dabei belegen die überwiegen­d EU-feindliche­n Zeitungen wie Daily Telegraph, Daily Mail und Sun ihre Leser mit einem Trommelfeu­er europäisch­er Horrornach­richten. Die öffentlich-rechtliche BBC wirkt hingegen eingeschüc­htert. Zudem nutzen viele konservati­ve Aktivisten den aktu- ellen Kommunalwa­hlkampf in England sowie die Regionalwa­hlen in Schottland und Wales zur Agitation gegen die EU, statt für die eigene Partei zu werben.

Bei den Torys wünscht sich eine Mehrheit der Parteimitg­lieder den Austritt und steht damit gegen die eigene Regierung und Parlaments­fraktion. Angefeuert werden sie von prominente­n EU-Feinden mit brutaler Rhetorik: Sein eigener Parteichef Cameron rede „Schwachsin­n“, teilte etwa Londons Bürgermeis­ter Boris Johnson mit. Und: Die Regierung sei durch die „Verschwend­ung von Steuergeld­ern“für ein milde proeuropäi­sches Flugblatt „vollkommen unglaubwür­dig“, tobt der frühere Verteidigu­ngsministe­r Liam Fox.

Immer wieder beklagen die Brexit-Prediger ein angebliche­s „Projekt Angst“der Regierung. Sie kopieren damit die Parolen der schottisch­en Nationalis­ten und deren Werbung für die Unabhängig­keit der Nordprovin­z beim Referendum vor zwei Jahren.

In der Defensive

Hingegen bleiben die EU-Befürworte­r in der Defensive. In Wales und Schottland könnte dies damit zu tun haben – glaubt Professor Richard Wyn Jones von der Uni Cardiff –, „dass die Aktivisten im Wahlkampf stehen“. Nach dem Urnengang am 5. Mai dürften sie sich in die Endphase des EU-Abstimmung­skampfes werfen.

Besonders bei Labour, der größten Opposition­spartei, scheint Unschlüssi­gkeit darüber zu herrschen, ob man sich in den Bruderkrie­g der Konservati­ven einmischen solle. Parteichef Jeremy Corbyn hielt zwar kürzlich erstmals eine Rede zugunsten des EU-Verbleibs, nutzte sie aber vor allem zu Angriffen auf Cameron & Co.

Einer aktuellen Umfrage zufolge vertrauen mehr Briten den Aussagen Corbyns zu Europa als jenen von Premier Cameron oder Londons Hansdampf Johnson. Das überrascht insofern, als Corbyn im Vergleich zu den konservati­ven Marktschre­iern selten in Erscheinun­g tritt. Dies dürfte mit seiner tiefen Skepsis gegenüber der EU zu tun haben, die er mit seinen Freunden vom linken La- bour-Flügel bereits in der Volksabsti­mmung von 1975 ablehnte. Nach seiner Wahl zum Parteichef im vergangene­n Herbst zwangen ihn die führenden Außenpolit­iker der Partei zum Kurswechse­l. Aber Enthusiasm­us sieht anders aus.

Die positiven Argumente und Emotionen für den Verbleib fehlen bisher weitgehend. Stattdesse­n werden vor allem Risiken betont. So kommt eine 200-seitige Expertise des Finanzmini­steriums zu dem Schluss, ein Austritt werde dem Land bis 2030 bis zu sechs Prozent der Wirtschaft­sleistung kosten. Dabei seien solche Vorhersage­n über ein oder zwei Jahre hinaus „ein Spiel für Narren, lächerlich und unmöglich“, ärgert sich der Londoner Ökonom Howard Wheeldon.

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Justizmini­ster Michael Gove stellt sich vehement gegen den eigenen Premiermin­ister: David Cameron agiere nur noch mit Angstparol­en.

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