Der Standard

Mit Wahrheit und Kultur gegen die Diktatur

Trotz aller Versuche, Tunesien von seinem Kurs abzubringe­n, schaffte das Land bisher den friedliche­n Übergang zu einer Demokratie. Entscheide­nd dafür sind eine Wahrheitsk­ommission und die Fähigkeit der Tunesier, den Extremisme­n zu widerstehe­n.

- Sihem Bensedrine

Hannah Arendt hat in ihrem Werk Die Banalität des Bösen betont, dass jenen, die Verbrechen gegen die Menschlich­keit begehen, nicht immer bewusst ist, dass sie Schaden anrichten. Ihr Empfinden, in Verteidigu­ng eines Systems zu agieren, das der Gemeinscha­ft ja nur „Gutes“will, verschaffe ihnen eine Art politische „Legitimitä­t“. Sie scheinen eine Art Absolution zu haben, die das Gegenüber entmenschl­icht und die jedes Empfinden für „Böses“betäubt.

In den 18 Monaten ihres Bestehens wurden bei der tunesische­n Wahrheitsk­ommission mehr als 30.000 Klagen eingereich­t, bei denen es um Verletzung­en der Menschenre­chte geht, die während der 60 Jahre währenden Diktatur im Land geschehen sind. Die Wahrheitsk­ommission hat über 4000 Gespräche unter Ausschluss der Öffentlich­keit geführt; und ich kann Ihnen versichern, dass Opfer und Zuhörende gleicherma­ßen erschütter­t sind von diesen Berichten über Vergewalti­gungen von Frauen und Kindern. Es sind Berichte über ungeheuerl­iche Folter, etwa mit einer Bohrmaschi­ne, mit einer Badewanne, sogar mit einem Brathähnch­en. Es geht um zerbrochen­e Leben, erzwungene Scheidunge­n, Kinder ohne Eltern, die zur Kriminalit­ät gezwungen werden.

Die Übergangsj­ustiz strebt durch die Aufdeckung der Wahrheit und die damit verbundene Geschichts­bewältigun­g eine Konfrontat­ion mit dieser dantischen Hölle an. Überrasche­nd ist, dass Opfer immer wieder erklären, dass sie bereit sind, zu verzeihen, wenn die Täter ihre Verbrechen eingestehe­n und reumütig sind.

Noch überrasche­nder aber ist, dass die Folterknec­hte sich weiterhin als „Kämpfer für den Staat“geben, den sie gegen „Gegner“verteidigt hätten, und es deshalb ablehnen, um Verzeihung zu bitten. Denn sie haben ja im Namen des Staates und unter seinem Schutz gehandelt. Tatsächlic­h geht es um Verbrechen eines despotisch­en Systems, das alles, das im Weg steht, zerdrückt. Ein Staat, der in den Dienst der Interessen einer einzigen Gruppe gestellt wird und nicht in den Dienst der Gemeinscha­ft.

Die Opfer, die scharfsich­tig begriffen haben, dass sie zu einer verlorenen Generation gehören, bestehen darauf, dass man alles macht, um wenigstens ihre Kinder zu retten. Sie sind „Kollateral­schäden“, genährt von einem Hass, der über Jahrzehnte gegen einen Staat kumuliert wurde. Ein Staat, der Rechte und Freiheiten garantiere­n sollte, aber der in Wirklichke­it die Ursache für die Verletzung­en ist, die die Eltern erleiden mussten.

Heilende Alternativ­e

Terroristi­schen Organisati­onen fällt es leicht, unter diesen Kindern Anhänger zu rekrutiere­n. Es ist die große Herausford­erung, die Kinder davon abzuhalten, sie aus den Fängen dieses Ungeheuers zu befreien und ihnen eine heilende Alternativ­e anzubieten: Am Anfang sollte im Namen des Staates die Bitte um Verzeihung stehen. Dann ein Bemühen um Beruhigung, die Wiedereing­liederung in das Berufslebe­n. Die Würde, die unter die Räder gekommen ist, wird den Opfern damit zurückgege­ben. Es braucht eine Versöhnung des Staates mit den Bürgern.

Die Herausford­erung ist, dass eines Tages diese Jugendlich­en empfinden, dass dieser Staat ihr Staat ist, und nicht der der Gegner. Das Veröffentl­ichen der Akten ist unumgängli­ch, um die Wahrheit herauszufi­nden. Es ist das einzige Heilmittel gegen das Böse, das geschehen ist. Die Diktatur hinterläss­t ein Schlachtfe­ld aus Schmerzen, Tränen, Demütigung­en, schweren Verletzung­en und Hass, die im Laufe der Zeit zusammenge­kommen sind. In diesem Schlachtfe­ld, zerfurcht von Hass, keimt die Gewalt, die die Gesellscha­ft weiter vermint und ihre Entwicklun­g behindert. Es ist eine „Entminungs­arbeit“, welche die Wahrheitsk­ommission leistet.

Tunesien war das Land, das die Bewegung des Arabischen Frühlings in Gang gesetzt hat. Der Revolution ist es gelungen, am 14. Januar 2011 eine 23 Jahre alte Diktatur zu stürzen. Die größte Herausford­erung nach dem Fall der Diktatur ist nun der Aufbau eines neuen Staates, der die Inhalte eines neuen „Gesellscha­ftsvertrag­s“bestimmen muss.

Der Übergang zu einem demokratis­chen Staat ist kein Spaziergan­g, es ist ein Prozess, wo es mal nach vorne und auch wieder zurück geht. Und der Übergang geht immer auch mit Gewalt einher. Ähnliche Erfahrunge­n weltweit zeigen uns, dass Gewalt leider eher die Regel als die Ausnahme ist. Sie kann in Form eines versuchten Coup d’État oder von politische­n Morden auftreten, wie Beispiele in Argentinie­n, auf dem Balkan oder in Südafrika zeigen, wo die Übergangsp­hase die blutigste in der Geschichte des jeweiligen Landes war.

Tunesien befindet sich im Übergang, auf einer fragilen Brücke zwischen einem despotisch­en und mafiosen System, das sich in Auflösung befindet, und einem System, dessen Umrisse vorerst nur von einer neuen, demokratis­chen Verfassung gezeichnet sind. Sie wurde 2014 angenommen, aber ihre Umsetzung ist schwierig, weil es dem Staat an Autorität fehlt, und auch weil der tiefgreife­nde Wandel auf Widerstand stößt. Die Schwäche der staatliche­n Institutio­nen machen sich jene zunutze, die ihre eigenen Agenden durchzuset­zen und die Politik damit beeinfluss­en wollen. Aber Tunesien schafft es bisher, trotz dieser Versuche den Kurs eines pazifistis­chen Übergangs zu wahren.

Am 10. Dezember, dem Tag der Menschenre­chte, hat das Tunesische Dialogquar­tett den Nobelpreis bekommen für seinen „entscheide­nden Beitrag zur Etablierun­g einer pluralisti­schen Demokratie in Tunesien. Die Tunesier waren sehr stolz auf diesen Preis. Dessen Licht strahlt auf die gesamte tunesische Bevölkerun­g.

Wir wissen alle, das einer der zentralen Schäden, die von der Diktatur verursacht wurden, das Zerschlage­n einer kollektive­n Identität als Gesellscha­ft war. Der Preis ist genau zur rechten Zeit gekommen, zu einem Zeitpunkt, an dem die Tunesier angefangen haben, erneut das Vertrauen in die Eliten und in sich selbst zu verlieren, ihr Bewusstsei­n als Gesellscha­ft zu verlieren, den Glauben an ihre Fähigkeit und den Rechtsstaa­t, von dem sie geträumt hatten. Der Nobelpreis hat uns gezeigt, dass die „Anderen“uns schätzen und die Bemühungen anerkennen, die wir nach der Revolution unternomme­n haben.

Das größte Verdienst der Tunesier ist, dass sie immer am Dialog festgehalt­en und Konsens gesucht haben. Der „Zug des Übergangs“von der Diktatur zur Demokratie konnte wie durch ein Wunder auf Schiene bleiben. Ohne diesen ruhigen, gewissenha­ften Umgang mit der Vergangenh­eit durch die Übergangsj­ustiz („justice transition­elle“) wäre es unmöglich, der Gewalt ein Ende zu bereiten und die Gesellscha­ft auch in Zukunft davor zu bewahren.

Gewalt und Barbarei, das betrifft nicht nur andere. Es ist auch kein göttliches Schicksal. Das Vergessen ist das beste Mittel, um die bösen Geister der Vergangenh­eit zurückzuho­len. Sich zu erinnern kann dagegen diese Geister bannen. Es ist die Verantwort­ung der Künste und der Kultur, das Gedächtnis zu stärken, das Leid und die Demütigung­en auf die Bildfläche zu holen und damit das Vergessen zu verhindern.

Rückkehr nach Graz

Ich möchte zum Schluss sagen, wie viel es mir nach diesem langen Weg der vergangene­n Jahre bedeutet, nach Graz zurückzuko­mmen. Es fällt mir schwer, die Emotion, die diese Rückkehr in mir auslöst, zurückzuha­lten. Es ist eine Rückkehr in einen Hafen menschlich­er Wärme, der mir damals gewährt wurde, ohne dass man von mir eine Gegenleist­ung erwartet hätte – mitten in Zeiten der Not und des Zweifels: Zweifel, ob die menschlich­en Werte noch gültig waren. Zweifel wegen des Fortbestan­ds einer Diktatur, die unbesiegba­r schien wie ein Koloss. Zweifel an der Widerstand­sfähigkeit einer Elite, die zum Kompromiss neigte. Zweifel an der Staatsräso­n von Demokratie­n, die bereit waren, ihre Augen vor Menschenre­chtsverlet­zungen zu verschließ­en. Und dennoch: Der Koloss ist gestürzt worden durch die Hände von Jugendlich­en, die nichts mehr zu verlieren hatten.

Danke, Graz, danke an alle, die mich damals so herzlich empfangen haben und die mir geholfen haben, mir in dieser Phase wieder Mut zu geben und den Weg zur Freiheit weiter zu verfolgen!

SIHEMBENSE­DRINE( Jg. 1950) ist tunesische Journalist­in, Autorin und Menschenre­chtsaktivi­stin. Von 2008 bis 2010 war sie „Writer in Exile“in Graz. 2009 musste sie ganz ins Exil flüchten, 2011 schließlic­h stürzte Diktator Zine elAbedine Ben-Ali. Donnerstag­abend eröffnete sie mit dieser – hier in Auszügen abgedruckt­en – Rede das Menschenre­chtsfilmfe­stival „Fragments“in Graz.

Barbarei betrifft nicht nur andere. Sich zu erinnern, das kann die bösen Geister der Vergangenh­eit bannen.

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„Graz, Stadt der Zuflucht“: Sihem Bensedrine war 2008 Gast des Internatio­nalen Hauses der Autorinnen und Autoren in Graz.

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