Revolution von unten, Klassenkampf von oben
Die Heldinnen des zweiten Romans von Barbi Marković wollen auch ein Stück vom Kuchen, mit dem die Mittelschicht ihr Leben feiert.
lastet. Handke wirkte auf mich schüchtern, er sprach wenig, ganz zum Schluss aber, als ich las, hat er meine wahrscheinlich insgesamt missglückte Satire auf die Gruppe 47 gelobt. Er nervte mich, weil er das Licht nicht ausmachte und nachts mehrfach duschte und unentwegt las.
Standard: Handke hielt in Princeton eine Wutrede, die heute vor allem in Erinnerung ist.
Seine Vorwürfe haben mich überrascht. Wir Jüngeren fanden alle, das geht nicht so weiter, aber Handkes Angriff war uns zu pauschal. Er hat alle in einen Topf geworfen und etwas von Beschreibungsimpotenz, fast würde ich sagen: geraunt. Handkes Philippika wollte ich beantworten, aber da hat Richter gesagt, jetzt reicht’s: nicht auch noch Buch. Die Medien haben Handkes Beitrag zum Thema dieser Tagung gemacht.
Standard: Wohl auch, weil er den Appeal eines Popstars hatte.
Er trug damals eine Kapitänsmütze, und vergleichsweise lange Haare. Die Beatles-Frisuren gingen ja nur bis über die Ohren. Handke verblüffte alle durch seine Kenntnis der Musik, er kannte mehr als nur die aktuellen Hits. Und er las Krimis. Da war er uns auch ein bisschen voraus.
Standard: 1966 war die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland an einem wichtigen Punkt. Spielte das auch in die Gruppe 47 hinein? Gab es Kontakt zu den jüdischen Stars in Amerika, wie Philip Roth oder Saul Bellow?
Das ist ein wunder Punkt. Es gab kaum Kontakt, außer bei einer Party, bei der Allen Ginsberg im Nebenzimmer Sex hatte, ohne sich dabei stören zu lassen, wenn jemand die Tür öffnete. Die Deutschen sprachen nicht gut Englisch, die New Yorker kein Deutsch, es gab ein paar Vermittler, jüdische Emigranten aus Nazideutschland, von denen lasen auch einige und fielen vollkommen durch. Das war schnöde, wie die abgefertigt wurden. Ihre Sprache war mit der zeitgenössischen Sprache der BRD nicht mehr kompatibel. Aber die Gruppe 47 hatte sich im Grunde schon zehn Jahre davor gegenüber den Emigranten verschlossen.
Standard: Gab es später noch Kontakt zu den Größen des Betriebs? Zum Beispiel Reich-Ranicki?
Zu Reich-Ranicki habe ich noch eine schöne Geschichte. Auf dem Rückweg von der Tagung in Schweden 1964 machte er Station in Kopenhagen und lernte dort den deutschen Botschafter kennen. Es handelte sich um meinen Vater. Sie kamen natürlich auf mich zu sprechen, und Reich-Ranicki hielt mit seinem Urteil nicht hinter dem Berg: vollkommen unbegabt. Mein Vater antwortete: Das finde ich auch. Die beiden haben sich angefreundet. Später habe ich mich selbst mit Reich-Ranicki angefreundet, was ich nie gedacht hätte, denn er ging mir so auf den Geist mit seinen Plattitüden. Aber er hatte ein stupendes Gedächtnis, und irgendwann habe ich erkannt, dass er Sinn für Humor hatte. Dass er der führende, wenn auch umstrittenste Kritiker der BRD wurde, war für ihn eine Wiedergutmachung für das, was er im Warschauer Getto erlitten hatte.
Standard: Hatten Sie 1966 persönlich schon das Gefühl zu wissen, wohin es für Sie als Autor gehen könnte?
Ich habe damals experimentiert und aufgeblickt zu einem Autor wie Peter Weiss. Als die Gruppe 47 sich auflöste, hatte ich nicht das Gefühl eines Verlusts. Die 68erRevolte hat mich dann bald gepackt und aus der Bahn geworfen. Jahrelang habe ich Literaturtheorie und -kritik betrieben, erst in den 70er-Jahren entwickelte ich einen eigenen Stil. Das war auf eine Reise nach Haiti zurückzuführen, wo ich familiäre Wurzeln hatte. Plötzlich hatte ich mein Thema, dem ich nicht mehr ausweichen konnte.
Jörg Magenau tritt beim
bei „Im Talk mit Martin Walser und Jan Philipp Reemtsma“auf. Infos und Tagestickets: www.literasee.at Kartenreservierung: 03622/52 10 86 23
Hans-Christoph Buch, geb. 1944, lebt in Berlin und Haiti. Zuletzt erschien: „Boat People. Literatur als Geisterschiff“(Frankfurter Verlagsanstalt 2014).
Jörg Magenau, „Princeton 1966. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47“. € 19,95 / 223 Seiten. Klett-Cotta-Verlag, 2016
Mit meinem Namen fragt mich in Österreich niemand, woher ich komme, weswegen ich auch nicht ständig allen erklären muss, wie ich gefälligst hier gelandet bin. Die drei Superheldinnen des gleichnamigen Romans von Barbi Marković werden in ihrem Wohnort Wien ständig damit genervt, weil sie ständig auf ihren zufälligen Geburtsort Ex-Jugoslawien reduziert werden.
Außerdem sind sie ständig mittellos, obwohl sie ständig arbeiten, und sind ständig mit Schicksalsblitz und Auslöschung zur Hand, um „Vertreter[n] vulnerabler Gruppen, Klassen und Ethnien“(in absolutistischen Interventionen) zur Seite zu stehen. Was diese magischen Werkzeuge können, soll selber nachgelesen werden, die Lust zu spoilern muss man in einer Rezension demütig aussitzen. Ebenso demütig sollte man mit Verantwortung umgehen.
Als Rezensentin liegt es in meiner Verantwortung, was ich hervorhebe und hintanstelle. Stelle ich die rigorose Kritik an einer hierarchisierenden Gesellschaftsstruktur hintan, lobe lieber Form, Witz oder Coolness der Figuren, rezensiere ich als Mittelschicht.
Wenn Mittelschicht rezensiert, wird Klassenkämpferisches auf sozialromantische Größe ge- schrumpft, bevor es en miniature weiterkriechen darf. Mascha (die auf Gesundheit statt Schönheit setzt), Direktorka (die das Fach der Empathie autodidaktisch studierte) und das erzählende weibliche Ich (immer versucht, ihre Magie zu missbrauchen), drei kriegsbeschädigte Frauen Mitte dreißig, haben zwar von ihren Ahninnen das Zaubern erlernt, aber sind es nicht gewohnt, „ein normales, menschenwürdiges Leben zu führen“.
Nun wollen sie, wenigstens für einige Jahre, auch einmal sorgenfreie Mittelschicht sein dürfen. Wo deren Grenze verläuft, ist ihnen unklar, aber sie wissen, „dass wir es mit Geld leichter haben werden“. Mal essen gehen, sich überhaupt regelmäßig Essen leisten können, oder sogar Kinder mitsamt Familienkutsche – im Kasino muss das doch zu holen sein.
Sich von Klavierstunden ein Auto kaufen können? Kunst machen können einzig mit der optimistischen Hoffnung auf das nächste Stipendium? Die Superheldinnen kaufen das niemandem ab: „Bist du eine Taube, musst du ununterbrochen vorsichtig sein. Bist du ein Mensch ohne Rücken- deckung, ebenfalls.“Ihre zum Weinen „hungrigen nervösen Biografien“inklusive Lohndumping sind es, die ihre Leben so klein und scheiße machen.
Optimismus muss man sich leisten können. Die drei leisten sich bloß Grammatikfehler in der Horoskope-Redaktion. Am Konsum partizipieren sie nur, wenn sie für die unerschwingliche Dauer einer Dönerplatte eine „Pause von der Armut“nehmen. Die restliche Zeit über schielen sie auf die Parallelwelt der Abgesicherten, wissend, dass sie selbst als „Menschen niedrigster Ordnung“gelten.
Starke gegen Schwache
Das Vertrauen in die eigene Existenzberechtigung in dieser sozialen (Un-)Ordnung ist so geschwächt, dass die drei die Revolution von unten als auswegloses Unterfangen sehen, solange sich der Klassenkampf von oben dagegen stemmt: „Die Stärkeren schlugen die Schwächeren mit Baseball-Schlägern.“So wechseln die drei Superheldinnen ihre Städte nicht, weil das geil ist, sondern weil sie Chancen suchen.
Die topografische Anordnung um Wien, Arbeitergasse, mit einer Exkursion nach Berlin, die Montage zeitgenössischer Versatzstücke aus Werbung, Politik und Esoterik sowie das Abstrampeln der Protagonistinnen erinnern an Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, die Gerechtigkeit einfordern- de Frauenbande und die Erzählform der Rückblende an Joyce Carol Oates’ Foxfire – ebenfalls Romane, die in die Köpfe von Figuren mitnehmen, denen Dinge zustoßen, „die niemandem zu[stoßen], der auf sicherem Boden steht“.
Ja, klar, Form, Witz, Coolness, aber: Superheldinnen ist vor allem ein politischer Roman und verdient, politisch besprochen zu werden. Inklusive aller Resignation, Depression, „Halssäckchen“voller Neid, Wut, Galle und vor allem Revolutionspotenzial: „Zu Recht würdet ihr fürchten, wir könnten euch den Kopf abbeißen.“Man darf und soll sich von Marković zitternd angesprochen fühlen, wenn man auf der „Rangliste der Menschen“weiter oben rangiert.