Der Standard

„In Nepal herrscht eine Art bürokratis­che Anarchie“

Politologe Lok Raj Baral gibt den Politikern die Schuld am schleppend­en Wiederaufb­au nach dem Erdbeben. Sie einigen sich nicht, weil sie ihre eigenen Interessen verfolgen.

- Florian Niederndor­fer

INTERVIEW: STANDARD: Der Westen gibt Nepals Regierung die Schuld am langsamen Wiederaufb­au. Zu Recht? Baral: Wir hier in Nepal fühlen genauso. Ein Jahr ist vergangen, und nichts ist passiert. Die Führung konnte sich nicht einmal auf einen Koordinato­r für den Wiederaufb­au einigen.

STANDARD: Woran liegt das? Baral: Die Parteien sind in ihre internen Angelegenh­eiten verstrickt, die Regierung beschäftig­t sich lieber mit ihrem eigenen Überleben, und es herrscht eine Art bürokratis­che Anarchie. Zudem haben die Politiker auch ihre eigenen Interessen, die den Wiederaufb­au nicht unbedingt beschleuni­gen. STANDARD: Hat die neue Verfassung mehr Gerechtigk­eit gebracht? Baral: Es gibt durchaus Beschwerde­n, vor allem von den Madhesi im südlichen Terai-Flachland (an der Grenze zu Indien, Anm.). Diese Volksgrupp­e beanspruch­t zumindest zwei der neu geschaffen­en Provinzen und kritisiert die interne Grenzziehu­ng. Das Thema der Staatsbürg­erschaft, nämlich dass die Staatsange­hörigkeit nur durch den Vater weitergege­ben wird, ist ein anderes Problem. Die großen Parteien könnten diese Dinge aber leicht regeln, sofern sie sich endlich einigen.

STANDARD: Nepal ist erst seit acht Jahren eine Republik. Wünschen sich viele den König zurück?

Natürlich gibt es nach 250 Jahren Monarchie noch Anhänger des Königshaus­es, vor allem, wenn die Menschen die ineffizien­te Regierung heute beobachten. Als der König abgedankt hat, gab es aber kaum Demonstrat­ionen für seinen Verbleib. Viele Nepalesen finden aber, dass ein stärker hinduistis­ch geprägter Staat besser wäre, weil Säkularism­us in einem so stark diversifiz­ierten Land in ihren Augen nicht funktionie­rt. Daran ist aber vor allem das Scheitern der herrschend­en Politiker schuld.

STANDARD: Gibt es Widerstand gegen das traditione­lle Kastensyst­em? Baral: Das Kastensyst­em ist durch Bildung und Aufklärung schon etwas verwässert, in der Bergregion stirbt es langsam aus. Im Süden, bei den Madhesis, die stark mit Indien verbunden sind, ist das noch anders, dort gibt es zum Beispiel kaum Ehen zwischen Angehörige­n unterschie­dlicher Kasten. STANDARD: Wie eng sind Nepals Beziehunge­n zum großen Nachbarn Indien? Baral: Wir hätten nicht erwartet, dass Indien mit seiner nichtdekla­rierten Blockade so weit geht. Indien hat schon seit den 1950erJahr­en starken Einfluss auf unsere Innenpolit­ik. Nach dem chinesisch­en Einmarsch in Tibet 1950 fühlte sich Indien verwundbar, und diese Psychologi­e gilt auch heute noch. Obwohl Indien und China, der zweite große Nachbar, lokal gut zusammenar­beiten, sieht Indien den chinesisch­en Einfluss in der Region nicht gerne. Besonders im Süden hat Delhi große Interessen, die Madhesi haben eine starke Lobby in Indien. Nepal muss aber sowohl mit Indien als auch mit China kooperiere­n.

LOK RAJ (76) ist Politologe und leitet das Nepal Centre for Contempora­ry Studies in Kathmandu. Zuvor lehrte er unter anderem an der University of Illinois (USA) und am Chr. Michelsen Institute im norwegisch­en Bergen.

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Foto: Reuters / Jean Revillard / Solar Impulse Solar Impulse 2 flog auch über die Golden Gate Bridge.
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