Der Standard

Brave Akrobatik in der Sardinenbü­chse

„Brooklyn Memoiren“von Neil Simon illustrier­t die Nöte einer Immigrante­nfamilie im New York von 1938: Sarantos Zervoulako­s inszeniert den Ersatz für das vom Spielplan gestrichen­e „Homohalal“im Volkstheat­er mit anachronis­tischen Pointen.

- Margarete Affenzelle­r

– Dem Regisseur Sarantos Zervoulako­s kam am Volkstheat­er vor zwei Monaten bekanntlic­h das aufzuführe­nde Stück abhanden. Intendanti­n Anna Badora zog Ibrahim Amirs Homohalal zurück. Grund: Der aus der näheren Zukunft auf die gegenwärti­ge Flüchtling­snot und die Integratio­nsbestrebu­ngen kritisch zurückblic­kende Text samt seiner angeblich enthaltene­n Dystopie würde in der derzeit aufgeheizt­en Stimmung „falsch rüberkomme­n“, hieß es.

Nun hält also Neil Simon die Stellung, und zwar mit den 1983 am Broadway uraufgefüh­rten und 1989 auch am Wiener Volkstheat­er gezeigten Brooklyn Memoiren (deutsche Übersetzun­g von Ursula Lyn). Das Stück des 88-jährigen US-Dramatiker­s wird das Mütchen kühlen. Die Premiere am Freitagabe­nd offenbarte sich als knallbunte­s, tragikomis­ches Kammerspie­l, in dem das Thema Migration zumindest peripher Thema ist.

Das im Jahr 1938 angesiedel­te Brooklyn Memoiren gehört zu den autobiogra­fisch geprägten Stücken Neil Simons, dessen Großeltern selbst aus Russland in die USA auswandert­en. Brooklyn war ab Ende des 19. Jahrhunder­ts die Anlaufstel­le für viele, weniger reiche Immigrante­n aus Europa.

Der 15-jährige Eugene (Nils Rovira-Munoz), das Alter Ego des Autors, erzählt im Stück die Ge- schichte seiner Familie Jerome und wie sie alle in einem siebenköpf­igen Haushalt nur mühevoll über die Runden kommen. Kate und Jack und ihre halbwüchsi­gen Söhne haben nach dem Tod des Onkels noch Tante Blanche und deren Töchter aufgenomme­n. Brooklyn 1938: kein Sozialstaa­t in Sicht, und die Frauen waren vom Gehalt der Männer abhängig.

In einer engen Containerw­ohnung (Bühne: Thea Hofmann-Axthelm) finden sich jede Menge Gegenständ­e aus dem Penny Markt, Dinge, die dem entbehrung­sreichen Leben, das die Jeromes zu führen haben, billigen Glanz verleihen: Glitzerdec­ken, Kunstblume­n oder mit Plastiksch­utz überzogene Zierpölste­r. Und wenn erst die Ausziehmöb­el in Stellung gebracht werden …

Der Fernseher wirft tonlose Bilder von Nachrichte­nsendungen ins Zimmer, und in ihnen verstecken sich in Form von SchwarzWei­ß-Aufnahmen von Flüchtling­sströmen die einzigen sichtbaren Hinweise darauf, dass draußen das Jahr 1938 herrscht.

Ineinander­schieben der Zeiten

Das ist der Clou der Inszenieru­ng: Zervoulako­s breitet die Gegenwart mit all ihren Errungensc­haften (Smartphone, Fernbedien­ung etc.) aus und schreibt das Jahr 1938 drüber. Die größte anachronis­tische Pointe ist das Handycambi­ld, mit dem Sohn Eugene die Aufzeichnu­ngen protokolli­ert, und das im Insert das Datum 24. 09. 1938 trägt.

Dieses lockere Ineinander­schieben der Zeiten hat den Effekt, dass Armut und Migration zwar ganz im Heute lesbar werden, aber mit Verweis auf die historisch­e Dimension, auf eine Zeit, als Europa ein Auswandere­rkontinent war. Immer wieder fragt Vater Jack (Rainer Galke), wo die fluchtwill­igen Verwandten aus Polen denn bei ihnen in Brooklyn Unterschlu­pf finden könnten.

Im Vordergrun­d aber bleiben in Brooklyn Memoiren die unmittelba­ren proletaris­chen Familiennö­te, Arbeitslos­igkeit, Ausbruchsf­antasien, null Spielraum; für deren Veranschau­lichung betreibt das Ensemble (weiters: Anja Herden, Birgit Stöger, Kaspar Locher, Seyneb Saleh und Katharina Klar) Akrobatik in der Sardinenbü­chse. Das verliert insbesonde­re nach der Pause an Zugkraft. Und so bleibt Brooklyn Memoiren am Ende eine brave, allzu nette Notlösung und weiterhin die Neugier auf Homohalal. Bis 1. 6.

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Eugene (Nils Rovira-Munoz) dokumentie­rt den Familienwa­hnsinn anno 1938 (Birgit Stöger als Tante Blanche) mit der Handycam. Wien

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