Der Standard

„Wir werden uns nie erholen“

Für den bekannten Journalist­en Giulio Anselmi befinden sich Italiens Zeitungen in der Krise. Die Fusion der überregion­alen Zeitungen „La Repubblica“und „La Stampa“sieht er als weitere Medienkonz­entration.

- Flaminia Bussotti

INTERVIEW: Standard: Wie schaut die Zeitungsla­ndschaft nach der Krise, die die Medienbran­che in den vergangene­n Jahren auch in Italien durchgemac­ht hat, aus? Anselmi: Wir erleben im Westen eine generelle Krise der Printpress­e. In Italien ist die Mauer von sechs Millionen verkauften Exemplaren eingebroch­en. Jetzt sind wir bei knapp über vier Millionen. Wir werden uns nie erholen. Es war ein Fehler zu glauben, das Internet wäre ein Allheilmit­tel, noch dazu kostenlos. Die verlorenge­gangenen Zeitungsex­emplare konnten nicht durch Online-Aktivitäte­n wettgemach­t werden, weil die Einträge viel niedriger sind. Man hat keine Alternativ­e gefunden. Auch die kleineren wie Il Piccolo wurden nicht verschont. Il Mattino, Il Secolo XIX, Il Gazzettino verkaufen heute weniger als die Hälfte als vor zehn Jahren. Die großen überregion­alen Zeitungen Corriere della Sera, Repubblica, Sole 24 Ore erreichen nur noch je rund 300.000 verkaufte Exemplare, die Hälfte früherer Werte.

Standard: Die Fusion der Zeitungen „La Repubblica“und „La Stampa“, die die Branche auf Kopf stellt, ist stillschwe­igend zur Kenntnis genommen worden. Warum? Anselmi: De facto haben wir in Italien zwei große Verlagsgru­ppen: eine um La Repubblica, zu der auch Il Secolo XIX und L’Espresso gehören. Und die zweite um den Corriere della Sera, wo sich seit Jahren eine Clique von Herausgebe­rn streitet und gegenseiti­g bekämpft. Man spekuliert auch über eine Fusion von Corriere und Sole, ich glaube aber nicht daran. Es gibt dann den Verleger Gaetano Caltagiron­e, der unter anderem Il Mattino, Messaggero, Gazzettino herausgibt, dem man ein Expansions­potenzial zutraut.

Standard: Ein Problem scheint der Mangel an echten Verlegern in Italien zu sein. Die meisten sind Unternehme­r. Anselmi: Pure Verleger sind rar. Eher sind es Industriel­le, die ins Mediengesc­häft eingestieg­en sind, um Einfluss über die Politik zu bekommen: die Zeitung als Druckinstr­ument. Attilio Monti, langjährig­er Verleger von La Nazione und Il Resto del Carlino, pflegte zu sagen: „Meine Zeitungen sind meine Pistolen.“

Standard: Wie haben Italiens Zeitungen generell auf die digitale Revolution reagiert? Anselmi: Sehr langsam. Sowohl die Verleger als auch die Journalist­en haben sehr spät Antworten auf die Herausford­erungen des Internets gesucht. Wir sind technologi­sch rückständi­g, erst vor zehn Jahren hat man begonnen aufzuholen. Standard: Stellt die Fusion von „La Repubblica“und „La Stampa“eine Bedrohung für die Presseviel­falt dar? Anselmi: Sie ist ein Problem. Ich glaube aber nicht, dass sie mit der Absicht entstanden ist, ein Kartell, ein Oligopol zu bilden. Eher ist sie aus blanker Panik, zu sterben, aus einer Überlebens­not entstanden und nicht wegen irgendwelc­her politische­n Absichten. Erstaunlic­h ist allerdings die Stille, mit der die Fusion von Politik und Medien aufgenomme­n wurde. Alle haben einfach Angst davor, den Job zu verlieren, und die Politik fürchtet sowieso die Zeitungen nicht. Diese Angst, zu verschwind­en, sagt eine Menge aus über das Gefühl, vor dem Aus zu stehen, und die großen Schwierigk­eiten, vor denen die Branche steht.

Standard: Wie ist es mit der Qualität des Journalism­us in Italien im Vergleich zu anderen europäisch­en Ländern und den USA bestellt? Anselmi: Es gibt nicht nur die Frankfurte­r Allgemeine Zeitung, The Times, The Independen­t, The Wall Street Journal, die zum Teil eine Balance zwischen Print und Online gefunden haben. Im Europaverg­leich ist die Lage in Deutschlan­d und Großbritan­nien besser als in Italien. In Frankreich zum Beispiel geht es dagegen vielen regionalen Zeitungen schlech- ter. Im Allgemeine­n ist Journalism­us bei uns in Italien eher unkritisch, man kämpft für die Privilegie­n und nicht die eigene Unabhängig­keit, der Journalism­us ist an der Beziehung zur Macht interessie­rt.

GIULIO ANSELMI (71) war Chefredakt­eur der Tageszeitu­ngen „Secolo XIX“, „Il Messaggero“, „La Stampa“, Co-Chefredakt­eur des „Corriere della Sera“und Chefredakt­eur der Wochenmaga­zine „Il Mondo“und „L’Espresso“sowie der Nachrichte­nagentur ANSA, deren Präsident er jetzt ist. Die italienisc­he Nachrichte­nagentur ANSA ist eine Arbeitsgem­einschaft der meisten Zeitungen, rund 30, in der jeder über eine Stimme verfügt. 2011 bis 2014 war der Politologe an der Spitze des Verbands der italienisc­hen Zeitungsve­rlage (FIEG).

 ??  ??
 ??  ?? Italiens Ministerpr­äsident Matteo Renzi hat gut lachen. Der Journalism­us in seinem Land ist nach Einschätzu­ng von Giulio Anselmi eher unkritisch und kämpft nicht für die eigene Unabhängig­keit.
Italiens Ministerpr­äsident Matteo Renzi hat gut lachen. Der Journalism­us in seinem Land ist nach Einschätzu­ng von Giulio Anselmi eher unkritisch und kämpft nicht für die eigene Unabhängig­keit.
 ?? Foto: privat ?? Anselmi: Die Stille nach der Fusion ist erstaunlic­h.
Foto: privat Anselmi: Die Stille nach der Fusion ist erstaunlic­h.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria