Der Standard

Alles Leben ist Leiden

Mussorgski­s „Boris Godunow“an der Wiener Staatsoper

- Stefan Ender

Wien – Sie haben es alle nicht einfach. Xenia, die Tochter des Zaren Boris, leidet, weil ihr Bräutigam verstorben ist. Xenias Amme leidet, weil Xenia leidet. Der Mönch Pimen leidet, weil er zum einen alt ist und zum anderen zu viel weiß. Der Gottesnarr leidet stellvertr­etend für die orthodoxe Seele, aber auch deshalb, weil ihm die Kinder eine Kopeke abgeluchst haben. Das russische Volk leidet, weil das russische Volk im Prinzip immer leidet. Und Boris Godunow leidet, weil ihm der Geist des ermordeten Zarewitsch­s die Seelenruhe raubt.

Ja, es wird quasi pausenlos gelitten in Modest Mussorgski­s Oper Boris Godunow, deshalb passt es auch gut, dass die Wiener Staatsoper nach unterschie­dlichen Werkversio­nen seit April 2012 die knapp zweieinhal­bstündige Urfassung der Oper im Repertoire hat – pausenlos, versteht sich. Yannis Kokkos hat deren sieben Bilder in Szene gesetzt, zwischen einer grau-schwarzen, abstrakten Kulissenla­ndschaft sieht man reichlich bedrücktes Volk in gegenwarts­nahem Gewand und viel hochintens­ives Agieren der solistisch­en Kräfte.

René Pape gibt den zermürbten Zaren, komplett abgerockt steht er am Ende da in seinem knittrigen, bodenlange­n Goldmantel, mit wirrem, schulterla­ngem Fetthaar und irrem, gehetztem Blick: großartig. Der Deutsche singt eindrucksv­oll mächtig, leicht spröde nur in den oberen Regionen. Wie er zieht auch Kurt Rydl als Pimen im letzten Bild noch einmal alle Register darsteller­ischen und gesanglich­en Könnens. Da wird man wieder wach.

Nein, das wurde man schon im dritten Bild, als die zwei Aktivposte­n Ryan Speedo Green und Benedikt Kobel als Warlaam und Missail wieder Leben in die Bude der Schenkenwi­rtin (geschäftig: Aura Twarowska) brachten. Belebend später auch der runde, gleißende Sopran von Aida Garifullin­a (als Xenia) und der helle Tenor von Norbert Ernst als Schuiskij – in den oberen Regionen. Wohlklinge­nd Clemens Unterreine­rs Schtschelk­alow, leichtgewi­chtig Pavel Kolgatins Gottesnarr. Mit Feingefühl, Umsicht und präzisen Handkanten­schlägen führte Marko Letonja das mehr als solide Staatsoper­norchester durch das düstre Werk. Freundlich­er, und doch ermatteter Beifall am Ende. Nächste Vorstellun­gen am 9., 13., 16. 5.

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