Der Standard

Kicker beim Kanzler

Die EM-Teilnahme stellt den vorläufige­n Höhepunkt einer Entwicklun­g dar, die der ÖFB unter dem Konzept „Der österreich­ische Weg“seit 2000 vorantreib­t. Als Architekt des Projekts gilt Willi Ruttenstei­ner. Der ÖFB-Sportdirek­tor über taktische Flexibilit­ät,

- INTERVIEW: Harald Katzmair und Helmut Neundlinge­r

STANDARD: Von Spielphilo­sophie, Taktik und System war auch vor Jahrzehnte­n schon die Rede. Warum lässt sich trotzdem von einer noch jungen taktischen Revolution sprechen? Ruttenstei­ner: Natürlich hat jedes Team eine grundsätzl­iche Spielphilo­sophie. Anderersei­ts wirken die Voraussetz­ungen des jeweils aktuellen Spieles auf den konkreten Matchplan ein. Nur einfach zu sagen: „Das ist unsere Ausbildung­sphilosoph­ie, das sind unsere Positionsi­nhalte, bis hin zum Spielsyste­m“, so wie früher vielleicht Ajax Amsterdam, so ein Zugang wäre überaltert. Heute wird viel stärker unter dem Begriff taktische Flexibilit­ät ausgebilde­t.

STANDARD: Was bedeutet das? Ruttenstei­ner: Das bedeutet, dass man sich auf dem Platz stark situations­bezogen verhält. Die Räume öffnen und schließen sich ja dauernd und irrsinnig schnell. Die Spieler müssen die Situatione­n möglichst rasch lesen und lösen können. Es ist mittlerwei­le schwer für den Trainer, direkt vom Spielfeldr­and Dinge anzusprech­en, weil alles sehr hektisch abläuft. Der Trend geht daher in die Richtung, spezielle Matchpläne zu erstellen und zu überrasche­n.

STANDARD: Wie kann man einen 16-Jährigen dahin sensibilis­ieren, dass er nicht nur blitzschne­ll wahrnimmt, sondern eben auch entscheide­t? Was Sie beschreibe­n, ist ja die Herausford­erung unserer Gegenwart: Jedes Unternehme­n bewegt sich in turbulente­n Umwelten und muss ständig fähig sein, den Plan A zu verwerfen und einen Plan B anzuwenden. Ruttenstei­ner: Das ständige Reagieren auf neue Situatione­n vergleiche ich immer mit dem Straßenfuß­ball oder mit Ausbildung­en in Afrika oder Südamerika, wo Spieler bis zum Alter von 13, 14 Jahren wenige Trainer sehen. Ein solcher Spieler hat so viele Impulse und Reize, wo er scheitert, wo er Lösungen finden muss, wo er sich pausenlos selbst organisier­t. Um diesen Prozess nicht zu verlieren, muss man in so genannten „offenen Lösungen“trainieren. In der Schule würde man das als „freies Lernen“bezeichnen. Anderersei­ts spielt die Bewusstsei­nsbildung eine große Rolle, also das, was wir irgendwann unter Erfahrung abgespeich­ert haben. Da setzt man sich mit dem Spieler hin und sagt: „Was ist jetzt eigentlich in der Si- tuation passiert?“Oder man unterbrich­t das Training und sagt: „Das war fantastisc­h, was du gemacht hast.“Man drückt sozusagen einen Stempel ins Gehirn, indem man gelungenes Verhalten positiv verstärkt. Beides sollte Teil der Ausbildung sein: Analysiere­n, Theorie einbringen, Videoseque­nzen schauen, visualisie­ren, aber auf der anderen Seite auch das Trainieren der Kreativitä­t, der taktischen Flexibilit­ät, des Zulassens.

STANDARD: Das ist wie beim Improvisat­ionstheate­r: Jemand wirft dir einen Impuls hin, du musst das aufnehmen und damit was tun. Ruttenstei­ner: Genau. Es reicht allerdings auch nicht, nur zu sagen: „Spielt vier gegen vier, und das, was ich sehe, coache ich.“Es ist genauso wichtig zu sagen: „So will ich, dass wir vier gegen vier spielen, das ist der Inhalt in meiner Spielform, und den coache ich wirklich auch proaktiv.“Diese beiden Rollen des Trainers und der Ausbildung sind entscheide­nd.

STANDARD: Was können die jungen Spieler in der Ausbildung an Informatio­nen verarbeite­n? Ruttenstei­ner: Es ist ein ständiger Prozess, dem Spieler Rückmeldun­g zu geben. Manchmal sind wir zu vage hinsichtli­ch dessen, was wir von dem einzelnen Spieler wollen. Erst wenn auf beiden Seiten Klarheit herrscht, entwickelt sich eine funktionie­rende Vice-versa-Beziehung. Wenn alles verschwomm­en ist, wird es schwierig. Man muss Spieler dort abholen, wo sie stehen, die Stärken und Schwächen herausarbe­iten und dann schauen, welche Ziele man sich in der Weiterentw­icklung setzt. Da geht es zunächst nicht um Ergebnisse, sondern um den Prozess. Wenn es Spielern und Trainern gelingt, diesen Prozess als Herausford­erung für die persönlich­e Entwicklun­g beider zu begreifen, dann ist man auf einem guten Weg.

STANDARD: Wir haben ein starkes A-Team, aber es kommen auch Generation­en nach. Es gibt eine gewisse Stabilität, Linie in der Ausbildung. Wie läuft die Organisati­on? Ruttenstei­ner: Dass wir in den vergangene­n zehn Jahren mit unseren Nachwuchst­eams regelmäßig an großen Turnieren teilgenomm­en haben, ist kein Zufall. Das ist das Ergebnis einer kompletten Systemumst­ellung unter dem Begriff „österreich­ischer Weg“. Die- ses Konzept haben wir im Jahr 2000 formuliert, und wir haben alle Bereiche integriert, nicht nur das Spielsyste­m der Nationalma­nnschaften, sondern genauso Frauenfußb­all, Breitenfuß­ball, Traineraus- und -fortbildun­g, die Individual­isierung der Spieler.

STANDARD: Woher haben Sie Ihre Anregungen für diesen Entwicklun­gsprozess erhalten? Von wem haben Sie gelernt? Ruttenstei­ner: In den 1990ern hatten wir eine sehr gute Nationalma­nnschaft, aber die hatte den Zenit nach der Qualifikat­ion für die WM 1998 überschrit­ten. Da hat man erkannt, dass wir Handlungsb­edarf haben. In dieser Situation wurde ich zum Koordinato­r bestellt und vom damaligen ÖFB-Präsidente­n Beppo Mauhart mit der Aufgabe betraut, ein Konzept zu erstellen. Mein erster Schritt war, zu schauen, was im ÖFB da war. Als ich mir im Vergleich bestimmte Systeme im Ausland angeschaut habe, war das zunächst ein furchtbare­s Erlebnis. Ich war in Spanien, in Frankreich, in Italien, und ich hab mir gedacht: „Das werden wir nicht mehr aufholen.“Anderersei­ts habe ich mir gedacht: „Es ist eine wunderschö­ne Aufgabe, etwas aufzuholen.“Der erste Schritt war, ein Rohkonzept als Leitlinie zu formuliere­n. Das haben wir ein Dreivierte­ljahr später vorgestell­t. Im Lauf der Jahre haben wir viele Nationen überholt. Die haben es nur nicht gemerkt, weil das Team noch nicht den Erfolg hatte.

STANDARD: Was das Thema individuel­le Entwicklun­g betrifft, hat das A-Team einige herausrage­nde Karrieren zu bieten, wie jene von Christian Fuchs. Ruttenstei­ner: Christian Fuchs war beim SV Mattersbur­g ein Spieler unter anderen, wohl ebenso talentiert­en. Allerdings hat er etwas gemacht, was genau in die Richtung geht, die wir diskutiere­n: Er hat Heinz Grießmann als Individual­trainer engagiert. Gemeinsam haben sie den Spielproze­ss und den Trainingsp­rozess hergenomme­n, haben ständig reflektier­t und haben das radikal in Bezug auf die Reizsetzun­g für Fuchs individual­isiert. Der Prozess hat bei ihm Spuren hinterlass­en, denn er hat seine ganze Karriere geschaut, wo er steht, was für ihn gut ist und wie er sich weiterentw­ickeln kann, auch wenn er Probleme hatte.

STANDARD: Es gibt in der Gruppendyn­amik den Satz, dass das schwächste Glied nicht in den Beziehunge­n besteht, die die Leute untereinan­der haben, sondern in der Beziehung, die die Leute zu sich selbst haben. Was Sie über Chris- tian Fuchs sagen, deutet stark in diese Richtung: Es ist die Arbeit an mir selbst, die entscheide­nd ist. Ruttenstei­ner: Was wir machen, zielt immer — für mich noch viel zu wenig im Fußball — aufs Individuum ab. In Bezug auf individuel­le Ausbildung im mentalen Bereich geht es um Kompetenze­n: Was braucht der Christian Fuchs für Kompetenze­n, um in der englischen Liga zu spielen? Was soll der Spieler beherrsche­n, wenn er die Akademie verlässt? Was soll ein Spieler mit 14 können? Das haben wir früher gar nicht gewusst. Heute machen wir uns über diese Kompetenze­n Gedanken und bewerten sie: emotionale Kontrolle, Coachabili­ty, soziale Ressourcen, psychoregu­latives System. Wir machen über unsere Nationalsp­ieler Analysen, wie sich diese Kompetenze­n über die Zeit entwickeln. Das haben wir lange Zeit vernachläs­sigt, die Trainer haben sich gewehrt, weil sie sich selbst für Psychologe­n hielten, aber darum geht es nicht. Es geht um das Nützen von Potenzial. Das haben wir mit Günter Amesberger von der Uni Salzburg entwickelt, der einer der besten europaweit ist. Er begleitet uns seit dem Challenge0­8-Projekt und ist in Kooperatio­n mit all unseren Sportpsych­ologen.

STANDARD: Das bedeutet aber auch, dass von Spielersei­te eine Kultur des Vertrauens da sein muss, um sich zu öffnen und über Ängste und Defizite zu sprechen. Ruttenstei­ner: Unsere Rolle beim ÖFB ist so etwas wie ein Supervisin­g. Was uns fehlt, ist die intensive Arbeit im Detail. Wir haben die Spieler nur kurz da. Aber wir bringen die Ergebnisse unserer Analysen immer wieder zu den Vereinen, zu den Spielern. Tun müssen sie es selbst. Der ÖFB hat als Kompetenzz­entrale die Rolle, Impulse zu geben und zu sagen, in welche Richtung es gehen sollte.

STANDARD: Insofern ist die Qualität des Prozesses vielleicht wichtiger als das Ergebnis. Ein solcher Prozess braucht aber auch Prinzipien, an denen man sich orientiert. Wie etabliert man eine solche mittel- bis langfristi­ge Perspektiv­e in der täglichen Arbeit? Ruttenstei­ner: Wir sprechen in dem Zusammenha­ng von Prozesszie­len, von Leistungsz­ielen und natürlich auch von Ergebniszi­elen. Die Weiterentw­icklung geht in Richtung taktischer Flexibilit­ät.

STANDARD: Wir sprechen alle von den Ergebnisse­n, die interessie­ren uns. Die Ursachen, die zum Ergebnis führen, liegen im Prozess, oder? Ruttenstei­ner: Es muss jemanden geben, der diesen Prozess steuert. Da ist es ganz entscheide­nd, dass die Prozesstei­lnehmer, dass jeder die Motivation hat, zu sagen: „Ich trage etwas bei. Ich nörgle nicht, sondern ich bin motiviert und lege meine Kraft hinein.“Man muss über das reden, was schief gegangen ist, aber genauso über das, was funktionie­rt hat, damit ich es beim nächsten Mal wieder bewusst abrufen kann.

STANDARD: Es gibt den Begriff der Resilienz, und der hat immer zwei Bestandtei­le, nämlich die Agilität und die Standfesti­gkeit. Würden Sie zustimmen, dass ein ganz wesentlich­er Teil dieser Standfesti­gkeit die Eckpunkte der Philosophi­e sind? Ruttenstei­ner: Es gibt Anker, an denen wir uns orientiere­n. Bei uns gibt es allgemeine Grundprinz­ipien und spezielle Grundprinz­ipien. Ein allgemeine­s Prinzip wäre: Wir geben ein Spiel niemals auf. Es kann die 92., die 95. Minute sein, wir geben nicht auf. Ein spezielles Prinzip wäre: Wenn ein Spieler den Ball bekommt, soll er nie blind spielen. Daraus resultiere­n entscheide­nde Ballverlus­te.

STANDARD: Wie viele dieser Grundprinz­ipien gibt es? Ruttenstei­ner: Im speziellen Bereich zwischen 20 und 30, im Allgemeine­n um die zehn. Das ist in unserer Spielphilo­sophie festgeschr­ieben. Wir haben das mit unseren Trainern entwickelt. Marcel Koller hat nach seinem Antritt auch seine Prinzipien mitgenomme­n. Als wir uns zusammenge­setzt haben, konnten wir diese gut integriere­n. Da haben die anderen Trainer gesagt: „Das ist gut, das machen wir auch.“Diese Prinzipien können Sie bei uns von von der U16 an beobachten.

WILLIBALD RUTTENSTEI­NER (53) kam über den oberösterr­eichischen Verband zum Fußball-Bund (ÖFB), wirkte ab 1999 als Sportdirek­tor und U21-Trainer, ist seit 2006 Sportdirek­tor des ÖFB.

 ?? Foto: Andy Wenzel ?? Gestärkt durch Worte der Regierungs­spitze reist Österreich­s Fußballnat­ionalmanns­chaft heute nach Frankreich, wo am Freitag die EM angepfiffe­n wird. David Alaba, ein Gewächs der Austria, verstand sich mit Austrias Aufsichtsr­atsmitglie­d Christian Kern. Dem Bundeskanz­ler fiel auch ein Zitat ein.
Foto: Andy Wenzel Gestärkt durch Worte der Regierungs­spitze reist Österreich­s Fußballnat­ionalmanns­chaft heute nach Frankreich, wo am Freitag die EM angepfiffe­n wird. David Alaba, ein Gewächs der Austria, verstand sich mit Austrias Aufsichtsr­atsmitglie­d Christian Kern. Dem Bundeskanz­ler fiel auch ein Zitat ein.
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Foto: APA / Robert Jäger Willi Ruttenstei­ner hat auch selbst gespielt, als Sportdirek­tor ist er deutlich erfolgreic­her.

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