Der Standard

Brexit: Corbyns Kampagne wider Willen

Im Lärm des konservati­ven Bruderkrie­ges geht eines fast unter: Das Brexit-Referendum entscheide­n die Wähler der Labour-Party. Doch die Unterstütz­ung durch Parteichef Corbyn fällt eher lauwarm aus.

- Sebastian Borger

REPORTAGE: Freundlich, aber bestimmt klopft Scarlett MccGwire an die Tür. Lange Sekunden geschieht gar nichts. Schon wendet sich die Frau im knallroten Jackett wieder zum Gehen, da wird doch noch geöffnet. Und plötzlich stehen sich an diesem strahlende­n Juni-Mittag im Nordlondon­er Bezirk Islington zwei Welten gegenüber: Hier das hochpoliti­sche LabourMitg­lied, das für die EU werben will; dort eine Einwanderi­n, die erkennbar wenig Englisch versteht.

MccGwire versucht es mit einigen Sätzen zu Europa. Das zeigt keine Wirkung. Plötzlich lichtet sich die Wolke der Verständni­slosigkeit im Gesicht der Angesproch­enen. „Jeremy“, sagt die türkisch-stämmige Frau freundlich, als sie MccGwires Labour-Aufkleber entdeckt, und beteuert: „Wählen Jeremy“.

Immerhin: Der örtliche Abgeordnet­e ist Labours Parteichef Jeremy Corbyn persönlich. Bei der jüngsten Unterhausw­ahl wurde er mit einem Vorsprung von mehr als 21.000 Stimmen wiedergewä­hlt. Vom Europa-Referendum, um das es diesmal geht, hat die LabourWähl­erin hingegen keine Kenntnis. „Jeremy will, dass Sie für ‚Bleiben‘ stimmen“, erklärt die Besucherin in der roten Jacke und deutet auf Corbyns Foto. „Jeremy“, bekräftigt die Angesproch­ene, nimmt das Flugblatt entgegen und zieht sich wieder in ihre Wohnung zurück.

Wahlkampf ohne Chef

Ob sie am 23. Juni wirklich zur Wahlurne gehen wird? Das bleibt mindestens so unklar wie die wirklichen Ansichten des LabourChef­s. Offiziell hat sich der 67jährige linke Veteran Großbritan­niens Verbleib im Brüsseler Club auf die Fahne geschriebe­n. Begeistert wirkt er dabei nicht. Seine Aktivisten – immerhin mehr als ein Dutzend sind an diesem Tag zusammenge­kommen – müssen ohne den Chef treppauf, treppab die Mietskaser­nen an der Dalme- ny Avenue abklappern. Die meisten bleiben dem ausländisc­hen Journalist­en gegenüber diplomatis­ch, aber einer sagt verdrossen: „Jeremy ist furchtbar. Wenn er so weitermach­t, verlieren wir wegen ihm das Referendum.“

Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Zwar sorgen im Brexit-Streit die Angehörige­n der konservati­ven Regierungs­partei unter Premier David Cameron für die meisten Schlagzeil­en, brutal prügeln sie verbal aufeinande­r ein. Doch von Anfang an haben Politikwis­senschaftl­er darauf hingewiese­n, es werde am Ende vor allem auf die Mobilisier­ung der Nicht-Torywähler ankommen. „Die Anhänger der Opposition sind entscheide­nd“, weiß die dänische Politologi­n Sara Hobolt von der London School of Economics (LSE) aus ihrer Forschung über Referendum­skampagnen auf dem Kontinent. Cameron oder sein Brexit-Gegenspiel­er Boris Johnson, schön und gut. Wichtiger sei Labours Parteichef: „Corbyn kann das Referendum für die EU gewinnen oder auch verlieren.“

Tiefe Skepsis

Wenn das stimmt, ist es um das Lager der EU-Befürworte­r schlecht bestellt. Corbyn klingt immer ein wenig beleidigt, wenn es um Europa geht, als wolle er mit dem Thema möglichst wenig zu tun haben. Der überzeugte Sozialist hegt mit seinen Freunden vom linken Labour-Flügel tiefe Skepsis gegenüber der EU. Er stimmte im Europarefe­rendum 1975 gegen die damalige EWG, lehnte den Maastricht-Vertrag ab, der den Grundstein zum Euro legte, und sprach noch im vergangene­n Sommer wohlwollen­d über den Brexit.

Nach seiner sensatione­llen Wahl zum Vorsitzend­en musste Corbyn, von den sozialdemo­kratischen Außenpolit­ikern vor ein Ultimatum gestellt, die EU-Kröte schlucken: Seine Partei werde geschlosse­n für den Verbleib im Club kämpfen. Zu spüren ist von Kampf allerdings wenig. Nur widerwilli­g, so heißt es in Corbyns Umfeld, habe sich der Vorsitzend­e in der heißen Phase des Abstimmung­skampfes zu einer Reihe von Reden verpflicht­en lassen.

Internen Umfragen zufolge wissen rund die Hälfte der zuletzt 9,3 Millionen Labour-Wähler gar nicht, dass die Partei für den EUVerbleib trommelt. Auch ein Brief der sechs noch lebenden Vorgänger Corbyns im Amt des Parteichef­s wird daran wenig ändern. Das Sextett, darunter die früheren Premiers Tony Blair und Gordon Brown, betont darin: Labours Werte würden von der britischen Mitgliedsc­haft in der EU gestärkt. Selbst labournahe­n Medien war die Interventi­on kaum eine Erwähnung wert.

„Kampf zwischen Torys“

Die Aktivisten in Islington ziehen am Ende eine zwiespälti­ge Bilanz. Der Ortsverein­svorsitzen­de Lindsay Thomas erzählt von seinem Gespräch mit einem Rentner. Beim Referendum 1975 habe dieser noch für den Austritt gestimmt, diesmal sei er für den Verbleib. Nur zur Abstimmung gehen wolle er nicht: „Das ist ein Kampf zwischen den Tories. Damit habe ich nichts zu tun.“

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Labour-Chef Jeremy Corbyn macht sich rar bei der Pro-EU-Kampagne seiner Parteifreu­nde.

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