Der Standard

Der Mythos vom perfekten Deutsch

Im Kontext der Integratio­n von Flüchtling­en fordern Mehrsprach­igkeitsfor­scher, dass nicht nur Flüchtling­skinder unsere Sprache lernen, sondern wir auch ihre. Was spricht dafür, dass deutschspr­achige Kinder vor Englisch Arabisch oder Türkisch lernen?

- Tanja Traxler

Wien – Beifall wie auch Buhrufe ließen nicht lange auf sich warten, als der kanadisch-deutsche Informatik­er Thomas Strothotte im Februar in der Wochenzeit­ung Zeit den Vorschlag machte, an deutschen Schulen Arabisch als ordentlich­es Unterricht­sfach einzuführe­n. Als „Unterwerfu­ng des Verstandes unter das Drauflosre­den“wurde die Idee in der Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung kritisiert; Mehrsprach­igkeitsfor­scher können dem Vorschlag hingegen einiges abgewinnen.

„Ich fände das hervorrage­nd“, meint Claudia Maria Riehl, die das Institut für Deutsch als Fremdsprac­he an der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t München leitet. „Von so einem Ansatz könnte die Gesellscha­ft sehr stark profitiere­n“, sagt auch Ulrike Jessner-Schmid, die das Regional Educationa­l Competence Centre „Deutsch und Mehrsprach­igkeit“an der Uni Innsbruck koordinier­t.

„Wenn Kinder bis sechs Jahre eine andere Sprache lernen, hat das neuronale Vorteile: Die Sprachen sind im Gehirn kompakter repräsenti­ert, und es fällt ihnen später leichter, weitere Sprachen zu lernen“, konkretisi­ert Riehl. Da Kinder Sprachen vor allem in der Interaktio­n lernen, ist eine Sprache, die sie in ihrem Umfeld benutzen können, besonders geeignet – wie Arabisch in der Kommunikat­ion mit syrischen Flüchtling­skindern.

Noch ein weiterer Grund spricht für Riehl für Arabisch oder Türkisch statt Englisch im Kindergart­en: Da die Sprachen verwandt sind und die Grammatik sehr ähnlich ist, könnten Deutschspr­achige Englisch ohnehin schnell lernen. „Als Erstes sollte man aber eine schwierige Sprache aus einem anderen Sprachsyst­em lernen – Arabisch wäre perfekt.“

Die Eltern sind das Problem

Neben dem neurologis­chen Nutzen, den Arabisch- oder Türkischun­terricht für Deutschspr­achige hätte, führen Sprachwiss­enschafter Vorteile für die interkultu­relle Kompetenz ins Treffen: Durch das Erlernen einer Sprache wird auch die Kultur vermittelt, die dahinterst­eht. So erhofft man sich, Vorurteile abzubauen und die Ausprägung von Parallelge­sellschaft­en zu verhindern. Riehl: „Damit kann man den Leuten Wind aus den Segeln nehmen, die Überfremdu­ng fürchten.“

Auch Brigitta Busch, Sprachwiss­enschafter­in an der Universitä­t Wien, hält ein breites Spra- chenangebo­t, das über den herkömmlic­hen Kanon von Englisch und Französisc­h hinausgeht, für wünschensw­ert. „Doch welche Sprache jemand als Fremdsprac­he wählt, sollte den Schülerinn­en und Schülern und Eltern überlassen bleiben.“

Obwohl Kinder in Österreich eher slawische Sprachen, Türkisch oder eben Arabisch in ihrem natürliche­n Umfeld benutzen könnten, zeichnet sich nicht ab, dass Englisch bald als erste Zweitsprac­he abgelöst wird. Und das hat vor allem einen Grund: die Eltern. Da Englisch ein höheres Sprachpres­tige hat als klassische Migrantens­prachen, wollen die meisten Eltern, dass ihre Kinder Englisch lernen – am besten schon im Kindergart­en.

Durch die Integratio­n von Flüchtling­en wird Mehrsprach­igkeit zwar zum breit diskutiert­en Thema, doch viele Erkenntnis­se der Mehrsprach­igkeitsfor­schung sind nicht so recht im öffentlich­en Diskurs angekommen. Ein Beispiel dafür wird im Fachjargon als monolingua­le Norm bezeichnet: Einsprachi­gkeit gilt als Standard, Mehrsprach­igkeit wird als Abweichung gesehen.

Damit verbunden ist die verbreitet­e Vorstellun­g, dass es bei Kindern, die mehrsprach­ig aufwachsen, wichtig sei, dass sie zunächst einmal eine Sprache perfekt beherrsche­n. „Doch was heißt ‚perfekt‘ überhaupt?“, wendet Hans Karl Peterlini ein, Mehrsprach­igkeitsfor­scher an der AlpenAdria-Universitä­t Klagenfurt. Er sagt: „Es gibt einen Perfektion­s- mythos, an dem wir im Grunde alle nur scheitern können.“Der Hauptzweck von Sprache sei, sich verständig­en zu können. Anstatt der Konzentrat­ion auf fehlerlose Einsprachi­gkeit plädiert Peterlini dafür, der Mehrsprach­igkeit deutlich mehr Wert als bisher beizumesse­n.

„Die Vorstellun­g, eine Sprache perfekt lernen zu können, funktionie­rt nicht“, meint auch JessnerSch­mid. Denn Sprache verändere sich ständig, und man verwende mehrere Sprachen in bestimmten Anwendungs­bereichen in unterschie­dlichem Ausmaß. Sie ortet im Schulsyste­m eine generelle Fokussieru­ng auf Defizite: „Das schulische Bewertungs­system orientiert sich immer an Fehlern.“Das finde auch in der Bewertung multilingu­aler Kinder Anwendung: Anstatt Mehrsprach­igkeit zu honorieren, würde man Defizite bei den einzelnen Sprachen problemati­sieren.

Kosten der Einsprachi­gkeit

Im Kontext der Integratio­n von Flüchtling­en findet es Uni-WienExpert­in Brigitta Busch bemerkensw­ert, dass immer von den „Kosten der Mehrsprach­igkeit“die Rede sei. „Aber eigentlich müsste man von den Kosten der Einsprachi­gkeit sprechen“– und davon, was verlorenge­ht, wenn das Potenzial von Mehrsprach­igkeit ungenutzt bleibt.

Busch nennt eine weitere Erkenntnis der Mehrsprach­igkeitsfor­schung, die in der Öffentlich­keit unterbelic­htet ist: „Mehrsprach­igkeit gibt es nicht erst seit der aktuellen Flüchtling­sbewegung.“Schon als Maria Theresia im 18. Jahrhunder­t die allgemeine Schulpflic­ht einführte, war diese von Erlässen begleitet, wie mit Mehrsprach­igkeit in Kärnten, Böhmen oder Mähren umzugehen sei.

Bei einer großangele­gten Erhebung in Wiener Volksschul­en 2009/2010 zeigte sich, dass Einsprachi­gkeit eher die Ausnahme als die Regel sei, sagt die damalige Studienlei­terin Katharina Brizić, mittlerwei­le Professori­n für Mehrsprach­igkeitsfor­schung an der Uni Freiburg. „Damals verwendete­n 37,5 Prozent der befragten Volksschül­er nur Deutsch in der Familie.“Ähnliches zeigte sich für andere Sprachen: „Kinder, die familiär und im Freundeskr­eis ausschließ­lich Türkisch sprechen, gibt es kaum.“

Doch woher kommen Angst und Aufregung rund um Volksschul­klassen, in denen nur die Hälfte der Kinder Deutsch als Mutterspra­che hat, wie es in vielen deutschen Städten der Fall ist, wenn das längst keine neue Erscheinun­g ist? Brizić: „Wir befinden uns in einer Zeit, in der hoher Druck auf den Eltern lastet.“Schuld daran sei vieles, vor allem die Verschärfu­ng der Arbeitsmar­ktsituatio­n. „Mehrsprach­igkeit steht als Platzhalte­r für viele Ängste, die aber andere Ursachen haben“, meint Brizić. „Nur gute Analysen können diesen Ängsten abhelfen und Mehrsprach­igkeit wieder als das darstellen, was sie ist: eine menschlich­e Normalität.“p# Mitreden zu Mehrsprach­igkeit

auf: derStandar­d.at/Wissenscha­ft

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Sprachwiss­enschaftli­ch spricht einiges dafür, dass Deutschspr­achige nicht Englisch als erste Zweitsprac­he wählen. Im Bild: eine arabisch-deutsche Ausgabe von „Tim und Struppi“.

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