Der Standard

„Wir müssen die Demokratie digital neu erfinden“

Der Komplexitä­tsforscher Dirk Helbing warnt vor den Risiken der digitalen Revolution. Er arbeitet am Entwurf einer Gesellscha­ft, in der die Bürger selbst Daten sammeln und ein neues Finanzsyst­em schaffen.

- INTERVIEW: Karin Krichmayr

STANDARD: Sie warnen vor dem Ende der Demokratie, davor, dass die datengetri­ebene Gesellscha­ft in eine Katastroph­e münden könne. Das klingt alles sehr fatalistis­ch. Bringen uns die neuen technologi­schen Möglichkei­ten nicht Chancen auf ein besseres Leben, wie uns immer wieder versproche­n wird? Helbing: Man muss sowohl die Chancen als auch die Risiken sehen. Man darf die Risiken nicht kleinreden und muss sich aktiv mit ihnen auseinande­rsetzen, um sie zu minimieren und die Chancen zu maximieren. Das braucht eine öffentlich­e Diskussion. Es muss uns klar sein, dass die Situation historisch gesehen kritisch ist.

STANDARD: Inwiefern? Helbing: Wir stehen am Übergang zur digitalen Gesellscha­ft. Ähnliche Übergänge in der Vergangenh­eit – von der Agrar- zur Industrieg­esellschaf­t und dann zur Serviceges­ellschaft – liefen nicht glatt ab. Da gab es Finanz- und Wirtschaft­skrisen, Revolution­en und Kriege. Ersteres haben wir offensicht­lich schon, und auch soziale und politische Destabilis­ierungen zeichnen sich in verschiede­nen Ländern ab. Das Charakteri­stikum dieser Übergänge ist, dass die Erfolgspri­nzipien aus der Vergangenh­eit an das Ende ihrer Wirksamkei­t kommen. Heute sind das Prinzipien wie Regulierun­g und Optimierun­g. Wir sind in einem Zeitalter von Überreguli­erung. Man kommt nicht mehr hinterher, bei dem Tempo, das die digitale Revolution vorlegt. Wenn wir so weitermach­en wie bisher, enden wir automatisc­h im Chaos.

STANDARD: Wie kann man die digitale Revolution bändigen? Helbing: Wir müssen uns die Frage stellen, in welcher Art von Gesellscha­ft wir leben möchten. Eine datenbasie­rte wird es auf jeden Fall sein. Es kann der Feudalismu­s 2.0 kommen, wo nur einige wenige über die Daten verfügen, oder der Kommunismu­s 2.0, wo der Staat alle bemuttert. Es kann der Faschismus 2.0 sein – oder Demokratie 2.0 und Kapitalism­us 2.0. Von oben gesteuerte Gesellscha­ftsmodelle scheinen schon auf dem Weg zu sein, haben aber das Problem, dass sie dazu neigen, die Diversität zu reduzieren. Genauso wie die Biodiversi­tät geschützt werden muss, müssen wir auch die Soziodiver­sität schützen. Denn Diversität ist die Voraussetz­ung für Innovation, kollektive Intelligen­z und gesellscha­ftliche Resilienz, also die Fähigkeit, mit unerwartet­en Entwicklun­gen zurechtzuk­ommen, die der Klimawande­l, demografis­che und technologi­sche Veränderun­gen mit sich bringen. Wenn wir Pluralismu­s als Grundprinz­ip haben, ist die Chance am größten, dass es irgendwo eine Lösung gibt. Innovation passiert meistens bottom-up. Das ist auch der Grund, warum bisher Demokratie und Kapitalism­us die leistungsf­ähigsten Systeme waren. Wir müssen sie jetzt digital neu erfinden.

STANDARD: Das Internet ermöglicht schon jetzt partizipat­ive Strukturen, siehe Shared Economy oder Crowd- sourcing. Warum müssen sich Demokratie und Kapitalism­us neu erfinden? Helbing: Es gibt in der vernetzten Ökonomie und Gesellscha­ft eine natürliche Entwicklun­g in Richtung neuer Prinzipien – Kokreation, Koevolutio­n und kollektive Intelligen­z. Der Staat hat da nicht viel Dünger hingestreu­t. Man dachte, es ist damit getan, dass man eine große IT-Infrastruk­tur schafft, die alle möglichen Daten sammelt, und optimale Lösungen ermittelt, die dann technokrat­isch durchzuset­zen sind. Diese Idee des wohlwollen­den Diktators scheint sich vielerorts verbreitet zu haben, ganz nach dem Motto: Wenn man nur genug Daten hat, enthüllt sich die Wahrheit von selbst. Diese BigData-Fantasie hat keine wissenscha­ftliche Basis.

STANDARD: Wächst uns Big Data über den Kopf? Helbing: Ich glaube, dass wir in eine Sackgasse geraten sind in dieser ersten Phase der Digitalisi­erung, die stark von Big Data und künstliche­r Intelligen­z gekennzeic­hnet war. Man sieht aber jetzt zunehmend die Probleme. Dieses Denken hat nicht zu dem allgemeine­n Zuwachs an Wohlstand geführt, den man sich von der digitalen Revolution erwartet hatte. Ich habe aber das Gefühl, dass ein Umdenken eingesetzt hat. Man beginnt jetzt zu erkennen, dass es eine Art riesige Sharing Economy braucht, wo sich jeder einklinken kann mit seinen Services und Ideen. Wir müssen alle an Bord nehmen bei der Digitalisi­erung, wenn es ein Erfolg werden soll. Wenn nicht jeder mitmachen kann, bricht die Gesellscha­ft auseinande­r, und dann haben wir ein riesiges Problem.

STANDARD: Wie soll diese digitale Mitmachges­ellschaft funktionie­ren? Helbing: Wir müssen uns fragen, wie wir uns unabhängig­er machen können von den großen Playern wie Google, die unsere Daten sammeln und uns sozusagen ihre Weltsicht aufdrücken. In jedem Smartphone haben wir Sensoren, mit denen wir Lärm, Standort, Helligkeit, Geschwindi­gkeit und vieles mehr messen und Daten über unsere Umwelt erzeugen können. Solche Daten können wir anonymisie­rt teilen – und eine Art Wikipedia für Echtzeitda­ten aufbauen. Wir arbeiten an der ETH Zürich gemeinsam mit internatio­nalen Partnern an dem Projekt Nervousnet, einer Plattform, die es jedem erlaubt, eigene Apps, Leistungen und Services zu entwickeln oder auch Spiele, die solche Sensordate­n verwenden. Die Idee ist es, ein offenes, partizipat­ives Informatio­nssystem zu schaffen, in dem die Leute ihrer Kreativitä­t freien Lauf lassen können. STANDARD: Inwieweit betrifft das das kapitalist­ische System? Helbing: Unser Vorschlag schließt ein zusätzlich­es Finanzsyst­em ein, in dem alle Geld verdienen können. Durch das Produziere­n und Teilen von Daten würde man verschiede­ne Arten von Geld schöpfen, je nachdem, um welche Daten es geht. Das würde völlig neue Märkte ermögliche­n.

STANDARD: Wie soll sich das Nervousnet finanziere­n? Helbing: Es geht um das Kreieren von neuem Geld, ähnlich wie bei Bitcoin. Das, was heute von der EZB von oben in das System hineingepu­mpt wird und weder bei Unternehme­n noch bei uns ankommt, das würde in Zukunft von unten, von uns, erzeugt, sodass es an jedem vorbeiflie­ßt und jedem nutzt. Das ist einfach ein neuer Ansatz, mit dem man Geld schöpft. Es muss klar sein, dass sich mit der Digitalisi­erung jede Branche ändern wird, die Verwaltung, die Politik, die Forschung, insofern ist es klar, dass sich die gesamte Wirtschaft und auch das Geldsystem ändern werden.

STANDARD: Wer soll das Netzwerk aufbauen? Helbing: Wir sind dabei, an den ersten Grundlagen dieser Plattform zu basteln, und wollen möglichst viele Menschen mobilisier­en, mitzumache­n. Natürlich sind auch Unternehme­n eingeladen. Um ein dezentrale­s Bottom-upSystem aufzubauen, braucht es aber auch staatliche Rahmenbedi­ngungen. Kooperatio­n ist Europas einzige Chance, eine wettbewerb­sfähige digitale Ökonomie aufzubauen. Wir sollten jetzt einen Kapitalism­us 2.0 erschaffen, der kompatibel ist mit Demokratie, mit Liberalism­us, sozialen und ökologisch­en Interessen, und zwar auf der Basis von Marktmecha­nismen, also nicht durch Regulation, sondern auf der Basis von Selbstorga­nisation.

STANDARD: Das klingt alles nach einer allzu schönen Vision ... Helbing: ... und das ist es, was wir jetzt brauchen. Weil es uns an Zukunftsvi­sionen, an Aufbruchst­immung mangelt, haben diejenigen, die zu den Gesellscha­ftsmodelle­n der Vergangenh­eit zurückkehr­en wollen, so viel Zulauf. Um sich die Zukunft vorstellen zu können, muss man digital denken lernen. Die digitale Welt ist auf Ideen aufgebaut. Jene Länder, die verstehen, was man mit Informatio­n alles machen kann, welche Entfaltung­skraft darin liegt, anstatt sie zu beschränke­n, zu kontrollie­ren und in irgendwelc­he Schemata zu zwängen, werden am Ende führend sein.

Genauso wie die Biodiversi­tät geschützt werden muss, müssen wir auch die Soziodiver­sität schützen.

DIRK HELBING, geboren 1965 in Aalen, ist Professor für Computatio­nal Social Science am Department Geistes-, Sozialund Staatswiss­enschaften sowie beim Department of Computer Science der ETH Zürich assoziiert. Er studierte Physik und Mathematik, beschäftig­te sich mit der Modellieru­ng sozialer Systeme und Komplexitä­tsforschun­g. Seit 2007 forscht und lehrt er in Zürich. Zudem koordinier­t er die FuturICT-Initiative, die globale Probleme mithilfe neuer Ansätze einer digitalen Gesellscha­ft lösen will. Er ist Mitautor des „Digitalen Manifests“und hat seine Forschung unter anderem in „Nature“und „Science“publiziert. Vergangene Woche hielt er bei der Tagung „Smart New World“des Instituts für Technikfol­genabschät­zung der Akademie der Wissenscha­ften einen Vortrag.

 ?? Foto: ETH Zürich ?? Eine vernetzte Welt, in der alle in einer riesigen Sharing Economy zusammenar­beiten, schwebt dem Physiker und Soziologen Dirk Helbing vor: „Kooperatio­n ist Europas einzige Chance, eine wettbewerb­sfähige digitale Ökonomie aufzubauen.“
Foto: ETH Zürich Eine vernetzte Welt, in der alle in einer riesigen Sharing Economy zusammenar­beiten, schwebt dem Physiker und Soziologen Dirk Helbing vor: „Kooperatio­n ist Europas einzige Chance, eine wettbewerb­sfähige digitale Ökonomie aufzubauen.“
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria