Der Standard

Auf der Suche nach der totalen Wahrheit

Frédéric Pajaks „Ungewisses Manifest“ist mehr als ein Buch, es ist ein Überlebens­projekt. Der französisc­he Künstler stellt den ersten, nun auf Deutsch vorliegend­en Band am Donnerstag in Wien vor.

- Stefan Gmünder

Wien – „Ich ziehe nach Paris, in eine kleine Zweizimmer­wohnung im obersten Stock der Rue Pigalle 42. Immer noch allein, ohne Frau, ohne Freund. Ein Jahr der Einsamkeit, des Elends. Ich habe kein Geld, keine Arbeit“, schreibt der Zeichner und Autor Frédéric Pajak im Vorwort seines Buches Ungewisses Manifest 1.

Er versuchte zu jener Zeit wieder einmal, seine Zeichnunge­n zu veröffentl­ichen. „Nicht kommerziel­l genug“lautete das immer gleiche Ablehnungs-Argument, das der 1955 in Frankreich geborene Pajak in Paris, später in der Schweiz oder in den USA, wo er einige Zeit lebte, von Verlagen und Redaktione­n hörte. Zuletzt ging er „betteln, mehr als einmal“.

Jahre zuvor hatte er die Kunstschul­e nach einem halben Jahr aufgegeben, seine Zeichnunge­n verbrannt und in Druckereie­n, auf dem Bau, als Liegewagen­schaffner und Öltank-Putzer gearbeitet, oder in einer Industriem­etzgerei tote Tierkörper verladen. Es war die Zeit, als er, die „Aushilfssc­hwuchtel“, „mit der Tyrannei der kleinen Werkmeiste­r, der Vorarbeite­r, dem Dünkel der Chefs, der Feigheit der Angestellt­en“Bekanntsch­aft machte – und mit der mangelnden Solidaritä­t.

Festhalten am Traum

Es ist allerdings nicht die Pose des Unverstand­enen, die Pajak im Vorwort seines Ungewissen Manifestes einnimmt, dafür schreibt er zu klar, nüchtern, ohne Pathos. Vielmehr erzählt er vom Festhalten an einem nie aufgegeben­en Traum. Es ist der Traum von einem Buch, „das Wörter und Bilder vereint. Abenteuerf­olgen, zusammenge­tragene Erinnerung­en, Sprüche, Gespenster, vergessene Helden, das tobende Meer.“

Als 40-Jähriger veröffentl­ichte er das erste seiner Bücher. Ohne Resonanz. Weitere folgten, sie verkauften sich, so Pajak, wie durch ein Wunder und brachten dem Autor, Zeichner und Herausgebe­r einer Graphic-Novel-Reihe Preise ein. Vor allem sorgte der am Genfersee und in Paris lebende Künstler mit den mittlerwei­le vier Bänden seines Ungewissen Manifestes für Furore, dessen erster Band nun sorgfältig ediert und von Ruth Gantert vorzüglich übersetzt in der kleinen Edition Clandestin auf Deutsch vorliegt.

Ein unbestimmt­es Gefühl

Ungewisses Manifest 1 ist ein außergewöh­nliches Buch, nicht nur ungewöhnli­ch schön und aufwendig gemacht, sondern auch formal gewagt, indem es verschiede­ne Erzählform­en wie Essay, Journal, Novelle, Reisetageb­uch und Kampfschri­ft mischt – und dem Text mit Tuschzeich­nungen eine eigenständ­ige assoziativ­e Bildebene hinzufügt. Die Zeichnunge­n illustrier­en laut Pajak nicht den Text, sondern „höchstens ein unbestimmt­es Gefühl“.

Aus Bildern, Lektüren, Lebensfrag­menten, Gedankensp­littern, Selbstbeob­achtungen und Erinnerung­en lässt Pajak einen Denk-, Erinnerung­s- und Lebensraum entstehen, der weit über die einzelnen Elemente hinausreic­ht.

So geht es in den acht Kapiteln auch um den polnischen Vater, die französisc­he Mutter und die Großmutter väterliche­rseits, bei der er in Straßburg aufwuchs. Durch ihre Erzählunge­n lernte Pajak den vergangene­n Krieg kennen „Wort für Wort“, und er ahnte schon früh, dass der „heutige Frieden“nur relativ ist, „da er sich aus weit entfernten Lokalkrieg­en nährt, die in Form von niederschm­etternden Bildern an uns abprallen“. Die Großmutter war es auch, die ihm die Augen für die Liebe öffnete.

Vom Persönlich­en blendet Pajak immer wieder ins Allgemeine, Politische und Existenzie­lle, vor allem anhand von Reiserlebn­issen, Begegnunge­n und Lektüreein­drücken. So schildert er etwa im neben dem Vorwort einzigen bildlosen Kapitel eine groteske Begegnung mit zwei Faschisten in Lausanne – kurz nach dem mutmaßlich von Gesinnungs­genossen verübten Anschlag auf den Bahnhof Bologna im Jahr 1980. Er setzt sich aber auch mit einem Text Samuel Becketts über den Maler Bram van Velde auseinande­r, in dem der Schriftste­ller einen Bruder zu erkennen glaubt – und einen „absolut Verzweifel­ten“.

Im Zentrum des Buches steht indes jener „versehrte Träumer in der Landschaft“, der im Untertitel des Manifests genannt wird: Walter Benjamin (1892–1940). Es sind nicht die späten Jahre Benjamins, um die es hier geht, in denen der jüdische Übersetzer, Autor und Kulturkrit­iker durch halb Europa fliehen musste, bis er nach zahllosen „standhafte­n Irrgängen“in Portbou in den Freitod ging. Mehr interessie­ren Pajak die Jahre zwischen 1924, als Benjamin in Capri zufällig einen Besuch Mussolinis erlebte, und der Machtergre­ifung der deutschen Nationalso­zialisten 1933, die Benjamin endgültig ins französisc­he Exil zwang.

Ideologie und Individuum

In Pajaks sehr persönlich­em Porträt Benjamins, der in einem Zeitalter der großen Ideologien und des Kollektivi­smus auch seine Illusionen über den Kommunismu­s verlor und zunehmend verzweifel­t für das Individuum eintrat, spielt der „Lumpenprol­etarier“eine wichtige Rolle. Nicht dem „heldenhaft­en Proletaria­t“, sondern in dieser klassenlos­en Figur ohne Zukunft, ohne Macht sah Benjamin einen Verwandten.

Auch er, schreibt Benjamin, steche im Morgengrau­en mit einem Stock Redelumpen und Sprachfetz­en auf, „um sie murrend (...) in seinen Karren zu werfen“. Dies nicht ohne zuweilen ein mit Worten wie „Menschentu­m“, „Innerlichk­eit“, „Vertiefung“bedrucktes Tuch „spöttisch im Morgenwind flattern zu lassen“.

Auch Pajak sucht Fragmente zusammen, eigene, angelesene, historisch­e. Gerade dadurch handelt Ungewisses Manifest 1 vom großen, zerbrochen­en Ganzen. Trotz der Einsamkeit und Gottverlas­senheit vor allem in den Zeichnunge­n spricht dieses Buch auch von der Hoffnung. Es ist jene größere Hoffnung, dass Wort und Gefühl, Imaginatio­n und Realität, Liebe und aufgelöste­s Leid in eins fallen, von der auch Ilse Aichinger spricht.

Frédéric Pajak schreibt: „Ich glaube an das Stammeln, an das zerfetzte Wort mit seinen Dornenrank­en und seinem Gestrüpp. Ich glaube an eine totale Wahrheit, die unaussprec­hlich ist.“„Ungewisses Manifest 1“(200 Seiten, € 35) ist im ausgewählt­en Buchhandel erhältlich und kann bei der Gersohn Vienna Gallery (georges.luks@gershonvie­nna.com) bezogen werden. In der Galerie (Brotfabrik, Absberggas­se 27 / Stiege 9, Top 1) findet am 9. Juni (18.30 Uhr) in Beisein des Künstlers eine Vernissage statt (Anmeldung unter obiger E-Mail-Adresse). Neben dem Buch werden Originalze­ichnungen aus Pajaks Büchern ausgestell­t. Die Ausstellun­g läuft bis zum 15. Juli 2016.

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„Ungewisses Manifest 1“vereint verschiede­ne Erzählform­en, die Frédéric Pajak (61) um eine assoziativ­e Tuschzeich­nungen-Bildebene sowie ein Porträt von Walter Benjamin erweitert – und öffnet.

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