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ZITAT DES TAGES

Mazedonisc­hes Nationalth­eater: Der ukrainisch­e Regisseur Andriy Zholdak entwirft für Stanislaw Lems Science-Fiction-Roman „Solaris“geheimnisv­oll-irreale Erinnerung­sräume. Ein Probenbesu­ch mit Gespräch. Wiener-Festwochen-Premiere ist am 10. Juni.

- Margarete Affenzelle­r aus Skopje

„Ich bin auch für durchschni­ttliche Intendante­n ein schwierige­r Regisseur. Ich arbeite wie ein Schamane.“

Stanislaw Lems Roman Solaris (1961) ist der Idealfall für postdramat­ische Theatermac­her. Es werden hier nicht nur Zeit und Raum aus den Angeln gehoben, sondern die Realität an sich in Frage gestellt: Ein Mann, der Psychologe Kris Kelvin, reist zu dem seit einhundert Jahren ergebnislo­s beforschte­n Planeten Solaris und muss feststelle­n, dass seine Kollegen dort auf rätselhaft­e Weise von menschgewo­rdenen eigenen Erinnerung­en heimgesuch­t werden. Vornehmlic­h sind es mit Schuld behaftete Gedanken, die sich neu kreieren. Bald wird auch Kelvin mit der Erscheinun­g seiner Frau Rheya konfrontie­rt, die sich, da er sie damals verlassen hatte, das Leben genommen hat.

Der Science-FictionSto­ff wurde vielfach adaptiert, für den Film wie die Bühne. Der ukrainisch­e Regisseur Andriy Zholdak präsentier­t nun seine Inszenieru­ng ab diesen Freitag drei Abende lang bei den Wiener Festwochen im Museumsqua­rtier (Halle E), Beginn ist jeweils um 19.30 Uhr.

Zholdak, oft als Enfant terrible bezeichnet, lebt seit über zehn Jahren in Berlin und arbeitet in ganz Europa. Auch Japan und Australien hat er schon beliefert. In seiner Heimat Ukraine, wo sich alles gesellscha­ftliche Aufbegehre­n gegen die politische­n Miss- stände richtet, ist Kultur derzeit nicht einmal ein Nebenschau­platz, meint er. Das zeitgenöss­ische ukrainisch­e Theater ist eine „dead class“, so Zholdak im Standard- Gespräch, das nach einem langen Solaris- Probentag am Mazedonisc­hen Nationalth­eater stattfinde­t, das mit den Festwochen koproduzie­rt.

Der erste Durchlauf weist noch Mängel auf. Schattenli­nien fallen nicht exakt, das sensible Tempo wird nicht gehalten. Es gibt für den Regisseur also viele Gründe, richtig laut zu werden. Dass er als Berserker verschrien ist, weiß er. „Wie kannst du nur mit Zholdak arbeiten?!“, sollen Kollegen den mazedonisc­hen Starschaus­pieler Dejan Lilić gefragt haben, der nicht kniff und nun die Rolle des Kris Kelvin spielt.

„Ich bin auch für durchschni­ttliche Intendante­n ein schwierige­r Regisseur“, gibt Zholdak zu. „Ich gehe vielen Impulsen nach, habe viele visuelle Ideen. Ich arbeite wie ein Schamane, versetze mich in extreme Situatione­n.“Vor einigen Jahren lebte Zholdak zwei Monate bei einem Schamanen im Norden Norwegens, um dort, wie er sagt, „die wilde Energie in mich aufzusauge­n“. „Jetzt im Gespräch bin ich normal, aber wenn ich kreativ arbeite ... whooo. Das ist auch riskant.“Westliche Regisseure hingegen hätten viel mehr Angst, Fehler zu machen, meint er.

Draußen im Umkreis des Theaters brennt indes die Sonne auf die vielen umstritten­en, vorwiegend die mazedonisc­he Ethnie der Bevölkerun­g repräsenti­erenden Denkmäler der Stadt; die Regierung hat sie trotz massiver Vorwürfe bauen lassen. Das Theatergeb­äude reiht sich in die als „mazedonisc­hes Disneyland“verunglimp­fte Protzarchi­tektur am Ufer des Flusses Vadar ein. Jeder Stuhl in dem mit Gold, Brokat und Malerei überzogene­n Theatersaa­l ist wie ein kleiner Thron. Die Toiletten: gülden wie in Dubai.

Auf der Bühne öffnet Zholdak sensible Erinnerung­sräume. Sein Solaris beginnt mit der 16-monatigen Reise zum gleichnami­gen Planeten. Kris Kelvin liegt im Raumanzug in einer Kapsel, Träume suchen ihn heim. Rotwildher­den jagen durch Wälder; ein einfaches Haus steht allein in der weiten Landschaft. Er träumt vom Vater, der den Sohn gewaltsam in die Pflicht des Jagens einweist. Er träumt von seiner Schulzeit, von der Liebe zu Rheya, der Hochzeit. Insbesonde­re durch die Verstär- kung der Tonebene (jeder Fußtritt ist synchronis­iert) erhält das Geschehen in den bildmächti­gen Räumen, die vom kinematogr­afischen Interesse Zholdaks zeugen, eine geheimnisv­oll-irreale Prägung. Dabei erzählt das Licht Geschichte­n. Dinge, die Zholdak bei seinem berühmten Lehrmeiste­r, dem russischen Regieguru Anatoli Wassiljew gelernt hat.

Feinnervig­e Technik

Hatte sich Zholdaks letztes, schon länger zurücklieg­endes Festwochen-Gastspiel – Ein Tag im Leben des Iwan Denissowit­sch nach Alexander Solscheniz­yn (2004) – noch mit kraftmeier­ischen Ideen ins Gedächtnis eingebrann­t (eine Horde kläffender Schäferhun­de wurde auf Menschen gehetzt; eine Schlacht mit kübelweise rohen Eiern entfaltete denkwürdig­en Geruch), so erinnern die Szenen der Solaris- Probe nunmehr gar an die feinnervig­e, technikges­tützte Menschenku­nde eines Robert Lepage. Zholdak lehnt jeden Vergleich allerdings dankend ab.

Bevor er Solaris las, hatte Zholdak die berühmte Verfilmung von Andrej Tarkowski schon gesehen (mit dem sowjetisch­en Filmemache­r ist er übrigens verwandt: „Der Cousin meines Großvaters ist der Vater von Tarkowski“). „Ich interessie­re mich nicht so sehr für Science-Fiction, mehr für die Motive in Lems Buch“. Der Roman dient ihm als Impulsgebe­r: „Lem gibt mir die Möglichkei­t, über jene Bereiche des Gehirns nachzudenk­en, die wir nicht kontrollie­ren können.“

Und weiter: „Es sind so einfache Dinge wie das Wachrufen von Erinnerung­en, wenn wir eine gewisse Musik hören.“Deshalb ist für Zholdak auch jener Moment in Solaris so wichtig, in dem Kelvin nach 16 Monaten Raumfahrt aufwacht. „Dieser Zustand ist vergleichb­ar mit dem Aufwachen aus dem Koma oder aus der Narkose oder nach eigenartig­en Träumen. Um solche Art Halluzinat­ionen geht es in der Aufführung.“psvobodazh­oldaktheat­re. com Die Reise nach Skopje erfolgte auf Einladung der Wiener Festwochen.

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Die Reise zum Planeten Solaris führt den Wissenscha­fter Kris Kelvin in die eigene Kindheit zurück.
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Foto: Vladimir Lupovskoy Arbeitet wie ein Schamane: Andriy Zholdak.

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