Das Musterstück als Turnierspiegelbild
Jenseits der spielerischen Bescheidenheit mauserte sich das Finale zwischen Frankreich und Portugal zu einem Musterstück über vermeintliche und tatsächliche Leer- und Schwachstellen, Lückenbüßer, Haupt- und Nebenrollen, Wasserträger und Rädelsführer. Beginnen wir bei den Siegern: Nach dem frühen, verletzungsbedingten Hollywood-Abgang von Stürmerstar Ronaldo stellte sich die Frage, ob das auf dem Feld verbleibende Häuflein in seine Bestandteile zerfallen oder aber aus dem Schatten des Giganten treten und endlich aufblühen würde.
Lange Zeit spielte das Team so weiter, als würde es das Trauma der Abwesenheit des Meisters ignorieren. Das Spiel nach vorn mündete immer wieder in fruchtloses Flügelgeflanke, in der Netzwerkgrafik zu erkennen an den Achsen Mario–Quaresma bzw. Cédric– Nani. Zwei Wechsel brachten Portugal schließlich in die Lage, das Spiel nicht nur zu verhindern, sondern vor allem in der Verlängerung nachgerade zu dominieren: Durch die Hereinnahme von Moutinho erhielt das Zentrum einen erfahrenen Spielgestalter, sodass der bis dahin mit Aufbauagenden befasste bis überforderte Nani auf die ihm angestammte rechte Seite wechseln konnte. Die Einwechslung von Éder ermöglichte eine Art Ronaldo-Simulation, denn nunmehr konnten Nani und Quaresma auf den Flügeln toben, und Éder konnte seine Wucht als Mittelstürmer einsetzen.
Den Franzosen blieb es verwehrt, ihrer personellen Mutation die Krone des Triumphs aufzusetzen. Nach der Einwechslung von Coman und Gignac statt der im Verlauf des Turniers so wichtigen, an diesem Abend aber ausgepumpten Payet und Giroud erarbeiteten sich die Gastgeber ein spielerisches Übergewicht, dem einzig die Finalisierung verwehrt blieb, als Gignac kurz vor Ende der regulären Spielzeit den Ball an die Stange setzte.
Insgesamt gab das Finale ein Spiegelbild des gesamten Bewerbs ab: Unruhe und Hektik im Aufbau, kompensiert durch Konsequenz in der Arbeit „gegen den Ball“. Es steht zu befürchten, dass künftige Turniere ähnlich geprägt sein werden.
Helmut Neundlinger