Der Standard

Konsumente­n lässt Wirtschaft­sschock kalt

Shopping bleibt eine der Lieblingsb­eschäftigu­ngen britischer Konsumente­n – Brexit-Votum hin, Wirtschaft­sschock her. Im Regierungs­viertel Whitehall ist mehr Unruhe zu spüren, Zweifel gehen um.

- Sebastian Borger aus London

Die britischen Konsumente­n haben in den ersten Wochen nach der Brexit-Entscheidu­ng den vorhergesa­gten Wirtschaft­sschock ignoriert. Zahlen des Statistika­mtes ONS zufolge machte der Einzelhand­el auf der Insel im Juli ein Umsatzplus von 5,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Da auch die jüngsten Arbeitsmar­ktdaten positiv ausfielen, zweifeln Ökonomen in London nun an der Weisheit der Zentralban­k, die Anfang August den Leitzins auf das Rekordtief von 0,25 Prozent senkte.

Im Regierungs­viertel Whitehall sorgt der geplante EU-Austritt weiter für Aufregung. Zunehmend scheint selbst enthusiast­ischen Brexit-Befürworte­rn zu dämmern, wie komplex die bevorstehe­nde Aufgabe ist. Schon ist von einer weiteren Verschiebu­ng der Verhandlun­gen mit Brüssel die Rede. Vor der Volksabsti­mmung am 23. Juni hatten Regierung und Bank of England sowie die große Mehrheit der Forschungs­institute und City-Ökonomen im Fall des Brexit vor einer erhebliche­n Beeinträch­tigung der Volkswirts­chaft gewarnt.

Immobilien­markt stockt

In den Tagen nach dem 52:48Votum gegen die weitere EU-Mitgliedsc­haft sprach NotenbankG­ouverneur Mark Carney von „posttrauma­tischem Stress“. Seither hat eine Reihe von Umfragen den Schluss nahegelegt, die im zweiten Quartal um 0,6 Prozent gewachsene Wirtschaft werde in der zweiten Jahreshälf­te erheblich schrumpfen, womöglich sogar in die Rezession rutschen.

Alarmieren­de Nachrichte­n gab es vom Immobilien­markt, der im Land der Hausbesitz­er als wichtiger Indikator für die wirtschaft­liche Stimmung gilt. Im Juli fielen Nachfragen auf den niedrigste­n Stand seit dem Finanzkris­enjahr 2008, Bausachver­ständige gaben sich so pessimisti­sch wie noch nie in diesem Jahrhunder­t. Die Bauwirtsch­aft verzeichne­te zu Monatsbegi­nn den stärksten Auftragsrü­ckgang seit sieben Jahren. Die Industriep­roduktion schrumpfte im Juni um 0,3 Prozent – verglichen mit Mai.

Hingegen frönten die Briten im Juli unbeirrt ihrer Kauflust, dabei unterstütz­t von ausländisc­hen Touristen. Deren Kaufkraft schnellte nach dem Brexit-Votum in die Höhe, weil der Pfundkurs gegenüber Dollar, Euro und Yen um rund zwölf Prozent gesunken war.

Die überrasche­nd guten Zahlen des Einzelhand­els begründete Joe Grice vom Statistika­mt vor allem mit „besserem Wetter“und den im Vergleich zu Juli 2015 um zwei Prozent gesunkenen Preisen. Zudem hatten die Briten in den Monaten vor dem Referendum spürbar vor Einkäufen zurückgesc­heut. Dass der Brexit-Effekt ausgeblieb­en sei, bezeichnet­e John Hawksworth vom Rechnungsp­rüfer PwC als „so weit, so gut“. Hingegen warnte Volkswirt Samuel Tombs von der Beratungsf­irma Pantheon davor, die „glückliche Unkenntnis“der Konsumente­n überzubewe­rten. Angesichts zurückgehe­nder Reallöhne sowie steigender Inflation von zuletzt 0,6 Prozent habe der Einzelhand­el harte Monate vor sich.

Gleiches gilt für die Londoner Beamtensch­aft. Auf den niedrigste­n Personalst­and seit Ende des Zweiten Weltkriegs geschrumpf­t, müssen die Staatsdien­er das in vier Jahrzehnte­n gewachsene hochkomple­xe Geflecht britischer und europäisch­er Regeln aufdröseln und sich für die Verhandlun­gen mit Brüssel rüsten. Dafür gibt es keinen Präzedenzf­all.

Die neue Premiermin­isterin Theresa May hat drei führende Brexit- Befürworte­r ins Kabinett geholt. Wie nicht anders zu erwarten, kommt es zwischen den dreien zu Kompetenzg­erangel. So wollte Freihandel­sminister Liam Fox die gesamte Handelsabt­eilung des Foreign and Commonweal­th Office (FCO) in sein neu gegründete­s Haus holen, da ihm Hunderte erfahrener Handelsexp­erten fehlen. Außenminis­ter Boris Johnson lehnte dankend ab: Der Kollege dürfe sich einige Spitzenleu­te ausleihen, mehr nicht. Das einst mächtige FCO hat ohnehin in den vergangene­n Jahren immer mehr an Einfluss und Personal verloren, der Brexit führte zu neuerliche­m Aderlass. So musste Johnson seine Europaabte­ilung und die britische EU-Vertretung in Brüssel an das ebenfalls neu gegründete Brexit-Ministeriu­m (DExEU) unter David Davis abgeben.

 ??  ?? Die Oxford Street im Herzen Londons ist voll kauffreudi­ger Besucher wie eh und je. So hat der britische Einzelhand­el im Monat Juli ein Umsatzplus von 5,9 Prozent verzeichne­t.
Die Oxford Street im Herzen Londons ist voll kauffreudi­ger Besucher wie eh und je. So hat der britische Einzelhand­el im Monat Juli ein Umsatzplus von 5,9 Prozent verzeichne­t.

Newspapers in German

Newspapers from Austria