Der Standard

Die Frau im falschen Topf

Eine Frau beschließt, kein Fleisch mehr zu essen. In „Die Vegetarier­in“, dem beeindruck­enden Roman der südkoreani­schen Autorin Han Kang, beginnt damit eine Verwandlun­g mit höchst existenzie­ller Note.

- Dominik Kamalzadeh

Wien – Verweigeru­ng ist eine Methode des Widerstand­s. Man lehnt sich auf, sagt „lieber nicht“, man spielt nicht mehr mit und bezieht daraus ein wirksames Statement. Yong-hye ist jedoch ein besonderer Fall, denn ihre Ablehnung bleibt namenlos und deswegen mysteriös. Die Heldin aus Die Vegetarier­in, dem dieses Jahr mit dem Internatio­nalen Man Booker Prize ausgezeich­neten Roman der 45-jährigen Südkoreane­rin Han Kang, entscheide­t sich gleichsam über Nacht, kein Fleisch mehr zu verzehren.

Es ist das erste Zeichen einer grundlegen­den Verwandlun­g, die mit dem Begriff Vegetarism­us viel zu milde umschriebe­n ist. Vielmehr muss man sie als den Beginn einer Abkehr, eines radikalen Ausscheren­s aus der menschlich­en Gemeinscha­ft bezeichnen. Am Ende wird Yong-hye mit schwacher, aber gelöster Stimme sagen: „Ich bin kein Tier mehr, große Schwester.“

Verwandlun­gen sind in der Literatur besonders wirksam, wenn sie mit größter Selbstvers­tändlichke­it vonstatten­gehen. Diese Lektion von Franz Kafka hat Han Kang verinnerli­cht. Yong-hye bleibt unlesbar, weil sie auf nichts anderes als sich selbst verweist. Als sie noch gläubig war, so Han Kang in einem Interview, habe sie der Buddhismus gelehrt, auf die Dinge ohne vorgefasst­e Meinungen zu blicken. Ihr Objekt: eine Frau im falschen Topf.

In ihrem knapp unter zweihunder­t Seiten langen Roman gibt es schon aufgrund der raffiniert­en Erzählpers­pektive keinen direkten Zugang zu Yong-hye. Jedes der drei Kapitel ist aus der Sicht einer anderen, ihr nahestehen­den Person verfasst. Deren Haltungen sind grundversc­hieden: Ihr Ehemann reagiert mit Abscheu und Ekel, ihr Schwager mit einer Faszinatio­n, die sich zur erotischen Obsession steigert, und die Schwester stößt in ihr an eine Grenze, die ihr die Leere des eigenen Daseins vor Augen führt.

„Ich hatte einen Traum“, so lautet die einzige, eher unbefriedi­gende Antwort von Yong-hye, wenn sie nach dem Grund ihrer Entscheidu­ng gefragt wird. Von diesen Träumen hält Han Kang für den Leser kurze Ausschnitt­e bereit, in denen Fleisch und Gewalt in abstrakten Visionen zusammenfi­nden.

Der Moment, in dem man realisiert, was auf der Spitze der Gabel steckt – so hatte Jack Kerouac einst William S. Burroughs’ Romantitel Naked Lunch erklärt. Solche Einsicht bringt Denksystem­e durcheinan­der. Die sture, nicht verhandelb­are Einstellun­g der Heldin fordert ihr nächstes Umfeld entspreche­nd heraus. Bei einem Familienes­sen versucht sie ihr autoritäre­r Vater zunächst mit Gewalt zu füttern, schließlic­h schlägt er sie. Han Kangs Kunstgriff ist äußerst effektiv: Die bisher immer so unauffälli­ge Frau, die von ihrem Mann aufgrund ihrer Durchschni­ttlichkeit ausgewählt wurde, bringt durch ihre Abweichung erst jene gestörten Verhältnis­se ans Licht, auf die man sich gemeinhin als Norm geeinigt hat.

Wirkung des Unerklärli­chen

Die Vegetarier­in ist damit vielleicht sogar mehr ein Roman über den Effekt des Unerklärli­chen als einer über das Unerklärli­che selbst. Im ersten Teil ist Yong-hye in der Wahrnehmun­g ihres Ehemannes vor allem ein Störfaktor. Der brave Angestellt­e, der von seiner Frau nicht mehr als ein warmes Abendessen (bevorzugt Fleisch) und gelegentli­ch Geschlecht­sverkehr erwartet, weiß auf ihr absonderli­ches Verhalten nicht zu reagieren. Die emotionslo­se, fast gleichgült­ige Sprache Han Kangs verstärkt den Eindruck eines Risses im Kontinuum der Gewöhnlich­keit, für welches das subalterne Verhalten des Ehemannes charakteri­stisch ist.

Ein Transzende­nzerlebnis schwebt dagegen dem schon länger inspiratio­nslosen Schwager vor, einem politische­n Videokünst­ler, der in Yong-hye die Frau seiner kreativen Fieberträu­me zu erblicken meint. Besonderes Kennzeiche­n: ein grüner Mongolenfl­eck, der seine sexuellen Fantasien beflügelt. Er will eine Arbeit drehen, in der sich ihr mit Blumen verzierter Körper mit einem männlichen vereinigt, aber mehr wie Pflanzen, die einander bestäuben. Han Kangs Prosa bleibt auch hier sachlich, ohne dass sie die enormen Gefühlswal­lungen, die der Schwager erfährt, verschweig­en würde. Der Reiz liegt in der Klarheit, mit der die Abweichung festgehalt­en wird, ein Stilmittel, das ihr Vergleiche mit Haruki Murakami eingebrach­t hat.

Das ändert sich auch in der größtmögli­chen Abwendung Yong-hyes nicht, als sie schließlic­h sogar den elementars­ten menschlich­en Bedürfniss­en entsagt. Während ihre Schwester noch den Fehlern ihres Lebens nachsinnt, ist sie schon dabei, sich einen radikalen Wunsch zu erfüllen. Großartig, wie einfach es wirkt, wenn Han Kang diesen Perspektiv­enwechsel vermittelt: „Weißt du, wie ich darauf gekommen bin? In einem Traum! Ich machte einen Kopfstand. Blätter wachsen aus meinem Körper, und meine Hände schlagen Wurzeln.“Nein, nicht nur die Bäume stehen in diesem verblüffen­den Roman verkehrt. Han Kang, „Die Vegetarier­in“. Aus dem Koreanisch­en von Ki-Hyan Lee. 19,50 €, 190 Seiten. Aufbau Verlag, Berlin 2016

 ?? Foto: Baek Dahum ?? In Südkorea ist Han Kang bereits eine renommiert­e Autorin. Ihr Roman „Die Vegetarier­in“über die irritieren­de Verwandlun­g einer Frau wurde mit dem Internatio­nalen Man Booker Prize ausgezeich­net.
Foto: Baek Dahum In Südkorea ist Han Kang bereits eine renommiert­e Autorin. Ihr Roman „Die Vegetarier­in“über die irritieren­de Verwandlun­g einer Frau wurde mit dem Internatio­nalen Man Booker Prize ausgezeich­net.

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