Der Standard

Ein Mietshaus voller Narren in einer preisgegeb­enen Welt

Am ersten September hebt das Wiener Theater in der Josefstadt ein verlorenge­glaubtes Stück des großen Dramatiker­s Ödön von Horváth aus der Taufe. Die soziale Tragödie „Niemand“ist eine einzige beklemmend­e Anklage gegen die Kälte der Welt.

- Ronald Pohl

Wien – Das Vorhandens­ein von Niemand verdankt die Nachwelt einem Zufall. Sein gleichnami­ges Stück bezeichnet­e Ödön von Horváth (1901–1938) als „Tragödie in sieben Bildern“. 95 maschinenb­eschrieben­e Seiten umfasst das Typoskript. Der Copyright-Vermerk weist „1924“als Entstehung­sjahr aus, als Rechte-Inhaber fungiert der Verlag Die Schmiede.

Hervorgega­ngen ist die singuläre Textabschr­ift aus einer Konkursmas­se. Der Berliner Verlag durchlief mehrere Phasen der Zahlungsun­fähigkeit, 1928 segnete er endgültig das Zeitliche. (Von Kurt Tucholsky sind böse Worte über den Leumund des Verlagshau­ses überliefer­t.) Verwunderl­icher erscheint das Stillschwe­igen, das der Dramatiker Horváth in Betreff seines Frühwerkes wahrte. Lediglich von Horváth-Biograf Traugott Krischke ist ein Hinweis überliefer­t, der wiederum auf einer Aussage Lajos von Horváths, des jüngeren Bruders, basiert.

Aus Privatbesi­tz ging der hoch expression­istische Niemand- Text 2015 gegen einen Pappenstie­l in den Bestand der Wienbiblio­thek über. Das Wiener Josefstadt-Theater hat sich umgehend um die Uraufführu­ngsrechte bemüht. Voilà: Am ersten September hebt Hausherr Herbert Föttinger den Findling aus der Taufe.

Schauplatz des Dramas ist ein Stiegenhau­s. Wie Sendboten des Todes ziehen vor dem offenen Haustor schwarze Limousinen vorüber. Tatsächlic­h wird recht bald der Leichnam einer alten Frau eingesamme­lt. Doch egal, was die sozial herabgekom­menen Figuren in Niemand lassen oder tun: Aufgrund eines nicht näher bezeichnet­en Mechanismu­s sind sie zur Wiederkehr als Untote verurteilt. Nicht der einzige Hinweis auf ausgiebige Nietzsche-Lektüren, denen sich der junge Horváth mit einigem Feuereifer unterworfe­n haben muss.

Als allmächtig­er Besitzer des Mietshause­s fungiert ausgerechn­et ein „Schwächlin­g“. Der Pfandleihe­r Fürchtegot­t Lehmann hat verwachsen­e Beine. Die Einschränk­ung seiner Mobilität verdammt ihn zum Krückenkla­ppern im ersten Stock.

Zu ebener Erde aber tut sich die Hölle auf. Die Hure „Gilda Amour“ist den gewalttäti­gen Launen ihres Zuhälters Wladimir ausgesetzt. Und weil die Wirtschaft­skrise buchstäbli­ch alle Gesetze des gesitteten Zusammenle­bens außer Kraft setzt, verkaufen im straßensei­tigen Wirtshaus die Kellnerin- nen nicht nur Bier in Krügen, sondern vornehmlic­h sich selbst an zahlungsun­willige Freier.

Die eiserne Regel in Niemand ist das Tauschgese­tz. Anwandlung­en von Zärtlichke­it werden rasch als Sentimenta­lität entlarvt – nicht die einzige verblüffen­de Gemeinsamk­eit, die das Stück mit den Erzeugniss­en des jungen Bertolt Brecht aufweist.

Anklänge an den berühmten Horváth-„Sound“finden sich in ausgesproc­hen feiner Dosierung. Gerne unterhalte­n sich die Figuren, indem sie Kalendersp­rüche verballhor­nen. Sicherster Hinweis darauf, dass ihnen als Kleinbürge­rn der Ernst der sozialen Lage kaum jemals bewusst wird.

Unbegriffe­ne Existenzen

Fassungslo­s stehen sie vor den Trümmern ihrer Existenz. Ihr Unglück erklären sie sich vornehmlic­h als Wirken unsichtbar­er Mächte. Polizeilic­he Handhabe ist gegen die Schläge des Schicksals unmöglich. Jedes Verbrechen, vor dessen Androhung sie zusammenzu­cken, bleibt ihnen unbegreifl­ich: „... aber nie erscheint die Polizei, weil es im Gesetzbuch­e zwischen den Zeilen steht ---“.

Der Krüppel Lehmann erfährt indes eine wundersame Wandlung. Die überrasche­nde Heirat mit der ungelernte­n Prostituie­rten Ursula verhilft ihm zur kurzzeitig­en Illusion des Glücks. Einen Strich durch die Rechnung macht ihm das Wiederauft­auchen seines Bruders „Kasperle“.

Dieser, ein Ahasver, bemächtigt sich der Braut. Lehmann stürzt sich zu Tode – nicht ohne vorher reichlich vertrackte Reden mit gottesläst­erlicher Tendenz gehalten zu haben. Der titelgeben­de „Niemand“ist ein Gott, der sich von seiner Schöpfung abgewandt hat. Horváths Figuren haben hier noch deutlich den Schaum des Expression­ismus vor dem Mund. Niemand ist ein unvollkomm­ener Dramentext, der voller bedeutende­r Schönheite­n steckt. Er verbindet die Zeitdramat­ik eines Ernst Toller mit späteren HorváthSch­öpfungen wie den Geschichte­n aus dem Wiener Wald. Er wird seinen Weg auf dem Theater machen. pwww. josefstadt.org

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Ödön von Horváth (hier 1938, nicht lange vor seinem Tod) stand als junger Autor durchaus im Banne des Expression­ismus.

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