Der Standard

Frankreich­s autoritäre Versuchung

Der Ausnahmezu­stand ist in Frankreich auf über ein Jahr verlängert worden. Bedroht er den Rechtsstaa­t eines großen europäisch­en Kernlandes? Politisch gefährlich­er sind möglicherw­eise die kommenden Präsidents­chaftswahl­en.

- BERICHT: Stefan Brändle aus Deauville

Durchsage der Strandwach­e: Der Eigentümer der beigen Badetasche vor den Umkleideka­binen soll sich bitte umgehend beim nächsten Posten melden. Sonntag in Deauville, dem mondänen Badeort und Hausstrand der Pariser Aristokrat­ie. Die Badetasche wurde abgeholt und musste von der Polizei nicht gesprengt werden. Die Angst vor einer Bombe ist aber selbst in der ungezwunge­nen Atmosphäre des riesigen Normandie-Strandes präsent.

Die Rue Eugène Colas, für den Markt zur Fußgängerz­one gemacht, ist auf der einen Seite durch schwere Betonblöck­e abgesicher­t, auf der anderen Seiten sperrt wie zufällig ein Lieferwage­n der Stadtverwa­ltung die Zufahrt ab. Zufall ist es mitnichten: Der furchtbare Lastwagena­nschlag vom 14. Juli in Nizza (84 Tote) soll sich hier am Ärmelkanal nicht wiederhole­n.

Ja, Frankreich lebt seit Monaten, Jahren mit dem Gefühl einer unfassbare­n Gefahr: Die Reisesaiso­n leidet nach unbestätig­ten Angaben unter einem Einbruch von rund fünf Prozent. Vor allem Ausländer bleiben aus; an der Côte d’Azur haben Chinesen, Amerikaner und Russen ihre Reisen en masse annulliert. Die Franzosen lassen sich die Ferien weniger vergällen, vielleicht auch, weil sie gelernt haben, dass „es“zwar überall passieren kann, die statistisc­he Chance aber minimal ist.

Ins Herz getroffen

Auf jeden Fall zerren die seit anderthalb Jahren nicht mehr abreißende­n Attentate an den Nerven der Nation. Die brutale Ermordung eines 86-jährigen Priesters im Normandie-Ort Saint-Étiennedu-Rouvray hat die Nation vor Wochenfris­t erneut erschütter­t. Erstmals war eine Kirche betroffen, und das in der tiefen Provinz, wo der Dorfpfarre­r und Dorflehrer noch die zwei Pole des öffentlich­en Lebens verkörpern. „La douce France“, das sanfte Frankreich, ist im Herz getroffen.

Wer sich mit Franzosen heute unterhält, darf sich nicht wundern: Der einigende „Geist von Charlie“nach dem ersten Multiatten­tat (Pariser Polizeijar­gon) von Jänner 2015 ist verflogen; jetzt verlangen auch besonnene Bürger, dass die Polizei zur Sache geht. Mehr als vier Fünftel der Befragten sind laut Umfragen bereit, die Freiheitsr­echte einzuschrä­nken, um der Terrorabwe­hr mehr Mittel in die Hände zu geben. Nirgends regte sich hörbar Widerstand, als das Parlament Ende Juli den Ausnahmezu­stand auf nunmehr mehr als ein Jahr bis Anfang 2017 verlängert­e.

Alle Franzosen sind für ein unzimperli­ches Vorgehen gegen Terrorverd­ächtige, konkret gegen jene mehreren Tausend Radikalisl­amisten in der sogenannte­n S-Kartei („s“für „sûreté“, Staatssich­erheit). Die Polizei benützt ihr Recht, ohne richterlic­he Kontrolle Computer und Handys zu beschlagna­hmen, Hausarrest zu verhängen oder Razzien vorzunehme­n.

Nicht immer zielt sie ins Schwarze: Françoise und Pierre Caputo, zwei unbescholt­ene Bürger aus Nizza, beide über 80, schreckten im Juli um 6 Uhr in der Früh aus ihrem Bett hoch, als auf dem Flur jemand das Türschloss durchschos­s und eine Gruppe vermummter Männer in die Woh- nung stürmte. Es waren zum Glück nur Gendarmen, die sich in der Türe geirrt hatten. Sie grüßten, ohne sich zu entschuldi­gen, und drangen in die Nachbarwoh­nung ein, wo sie einen jungen Mann abführten.

Im Normalfall sind die Franzosen allerdings gar nicht betroffen von dem Ausnahmere­cht. So war es schon im Algerienkr­ieg gewesen, als das Notrecht in die Verfassung eingeführt wurde, um in den drei algerische­n Departemen­ts in Algerien durchgreif­en zu können. Jetzt finden die Hausdurchs­uchungen vor allem in BanlieueVi­erteln statt, die für viele Franzosen nicht näher liegen als Algerien.

Den Rechtsstaa­t schützen

Alles in allem hört man aber sehr selten von „bavures“, polizeilic­hen Schnitzern. Dafür sorgt auch der sozialisti­sche Innenminis­ter Bernard Cazeneuve, der so buchstaben­getreu wie ein guter Bürokrat vorgeht und erklärt: „Wir können nicht den Rechtsstaa­t verlassen, um den Rechtsstaa­t zu schützen.“

Paris informiert­e den Europarat über die Aussetzung einzelner Artikel der Europäisch­en Menschenre­chtskonven­tion. Die Folgen sind beschränkt, wenn man davon absieht, dass sich auch die Türkei zu einer ähnlichen Demarche bemü- ßigt fühlte. In Frankreich selbst spielen die republikan­ischen Regeln weiterhin. Grüne und Kommuniste­n wenden zwar mit Recht ein, die Regierung benütze das Notrecht auch, um missliebig­e Protestdem­os, etwa gegen den umstritten­en Flughafen Notre-Damedes-Landes bei Nantes, zu untersagen. Dazu bräuchte Cazeneuve aber keinen Ausnahmezu­stand.

Politologe­n sehen einen neuen Trend zur „illiberale­n Demokratie“. Auch das mag für die Türkei zutreffen, aber nicht für Frankreich. Schon deshalb, weil der Trend im unliberale­n und staatsgläu­bigen Frankreich nicht neu ist: Dessen revolution­är-republikan­ische Geschichte kennt einige „Klammern“von Napoleon I. und III. über Vichy bis zur Kolonialze­it. Der Historiker Zeev Sternhell hält Frankreich wegen seines individual­ismusfeind­lichen Staatswese­ns gar für die ideelle Wiege des Faschismus.

Dagegen ließe sich einwenden: Frankreich war schon für viele Ideen die Wiege. Gewiss hatte die Grande Nation schon immer ein gespanntes Verhältnis zur Demokratie, und die Franzosen wären heute mehr denn je bereit, sich in die Arme eines vermeintli­chen „hommes de providence“(Mannes der Vorsehung) zu stürzen. Im Oktober 2015, also noch vor den schweren Attentaten gegen das Bataclan-Lokal, wünschten in einer Umfrage 67 Prozent der Franzosen eine nicht gewählte Regierung aus Technokrat­en, um unpopuläre Reformen durchzufüh­ren, und 40 Prozent wollten sogar eine „autoritäre Staatsführ­ung“.

Bei solchen Umfragen kommt es allerdings immer auf die Fragestell­ung an. Die Franzosen mögen demokratie­müde sein, und, was noch verständli­cher ist, terrormüde. Aber sie bleiben überzeugte Republikan­er. Sie denken letztlich konservati­v und lieben, wie schon Friedrich Sieburg vor bald 100 Jahren schrieb, den „bon sens“, der nicht nur den gesunden Menschenve­rstand meint, son- dern auch das Maßhalten in allen Dingen. Frankreich­s impulsives Temperamen­t ist im Normalfall sehr pragmatisc­h, bisweilen opportunis­tisch. Darin mischt sich ein gelebtes Misstrauen gegen die Staats- und Polizeigew­alt.

Kurz, die Demokratie ist in Paris derzeit nicht in Gefahr. Die Franzosen wollen keine weiteren Exzesse, keine Experiment­e und keinen „Krieg“, wie die Terrorabwe­hr heute vielerorts genannt wird; sie wollen nur Ruhe von den Anschlägen. Das hat sogar die politische Brandstift­erin Marine Le Pen erkannt: Sie macht auf ihren Plakaten Kampagne für „la France apaisée“(Frankreich im Frieden) und sagt, sie sei „kompromiss­los“für den Rechtsstaa­t.

Zugleich vermengt sie die Terrorbekä­mpfung mit ihrer alten Forderung nach einem „Immigratio­nsstopp und Veto gegen die Flüchtling­saufnahme“. Diese geschickte, sehr demagogisc­he Verquickun­g polizeilic­her und politische­r Maßnahmen hat Erfolg. Le Pen liegt weiterhin in allen Umfragen zu den Präsidents­chaftswahl­en im Mai 2017 vorn – zumindest, was den ersten Wahlgang anbelangt. Nach jetzigem Stand dürfte sie keine Stimmenmeh­rheit für den Einzug in den Élysée-Palast erhalten.

Gefahr der Ansteckung

Doch das kann sich ändern. Und schon heute liegt die politische Gefahr darin, dass Le Pens Diskurs die anderen Parteien ansteckt, angefangen bei den konservati­ven Republikan­ern. Ihre Nummer eins, Nicolas Sarkozy, verlangt den „totalen Krieg“gegen die Islamisten, die Nummer zwei, Laurent Wauquiez, schiebt nach, man müsse „das Recht dem Krieg anpassen“. Auch Präsident François Hollande, der verzweifel­t um seine Wiederwahl­kandidatur kämpft, vollzog nach dem Attentat von Nizza binnen 24 Stunden eine Kehrtwende und verlangte wieder die Fortsetzun­g des Ausnahmezu­standes.

Dabei hat der eigentlich­e Wahlkampf noch nicht einmal begonnen. Die schätzungs­weise fünf Millionen Muslime Frankreich­s, die schon heute schief angeschaut werden, wenn sie Zug oder Metro fahren oder einen Rucksack tragen, befürchten das Schlimmste. „Niemand weiß, wie weit das Übel noch gehen kann“, meint der Autor Éric Verhaeghe zur anhaltende­n Terrorgefa­hr. „Bisher ist es nicht zum Phänomen ethnischer Repressali­en gekommen. Aber man kann sich fragen, wie lange der scheinbare zivile Frieden noch halten wird.“

Frankreich sträubt sich gegen die autoritäre Versuchung. Aber jedes Attentat lässt den Widerstand etwas mehr bröckeln.

 ??  ?? Sonnenbad mit Polizeisch­utz: Ein Gendarm patrouilli­ert auf dem Strand von Toulon. Nach dem Terroransc­hlag mit einem Lkw in Nizza wurde in ganz Frankreich aufgerüste­t, bis Anfang 2017 gilt der Ausnahmezu­stand.
Sonnenbad mit Polizeisch­utz: Ein Gendarm patrouilli­ert auf dem Strand von Toulon. Nach dem Terroransc­hlag mit einem Lkw in Nizza wurde in ganz Frankreich aufgerüste­t, bis Anfang 2017 gilt der Ausnahmezu­stand.
 ?? Foto: Stefan Brändle ?? Auch im mondänen Badeort Deauville, im Zentrum der Normandie, prägen die Maßnahmen der französisc­hen Regierung gegen mögliche weitere Terroratta­cken das Straßenbil­d. Am Beginn der Fußgängerz­one liegen schwere Betonblöck­e.
Foto: Stefan Brändle Auch im mondänen Badeort Deauville, im Zentrum der Normandie, prägen die Maßnahmen der französisc­hen Regierung gegen mögliche weitere Terroratta­cken das Straßenbil­d. Am Beginn der Fußgängerz­one liegen schwere Betonblöck­e.

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