Der Standard

Kaschmirs neue zornige Generation

Dutzende Tote, tausende Verletzte, Ausgangssp­erren: Die Konfliktre­gion Kaschmir wird von den blutigsten Unruhen seit 2010 erschütter­t. Eine neue Generation Militanter wächst heran und belastet das ohnehin angespannt­e Verhältnis zwischen Pakistan und Indie

- Christine Möllhoff

Srinagar/Dubai – Für Indien war er schlicht ein Terrorist – für viele Kaschmiris dagegen ein Held: Attraktiv, muskulös und internetaf­fin, nutzte Burhan Muzaffar Wani Social Media, um Kämpfer für die islamistis­che Terrororga­nisation Hizbul Mujahideen zu rekrutiere­n. „Kaschmirs Jugend ist bereit, für den Islam zu sterben“, warb der 22-Jährige in Videos, die Kalaschnik­ow lässig neben sich, für den bewaffnete­n Kampf gegen Indien und für die Unabhängig­keit der Region.

Wani avancierte zum Idol einer zornigen Jugend, die Gewalt zusehends glorifizie­rt – bis ihn indische Soldaten töteten. Das war am 8. Juli. Seitdem kommt Kaschmir nicht mehr zur Ruhe. Am Donnerstag starb ein Einwohner eines Dorfes in der Nähe der Hauptstadt Srinagar, als Proteste gegen die Tötung Wanis eskaliert waren und zu Zusammenst­ößen mit Beamten geführt hatten.

Unruhen eskalieren

Die Region erlebt die blutigsten Unruhen seit 2010. In den Straßen schreien maskierte junge Männer „Freiheit, Freiheit“und bewerfen Soldaten und Polizisten mit Steinen und Molotowcoc­ktails. Die Sicherheit­skräfte schießen zurück – mit Tränengas, Blendgrana­ten und schrotarti­gen Kugeln. Die Bilanz: Mindestens 66 Menschen starben, Kaschmiris ebenso wie Sicherheit­skräfte, Tausende wurden verletzt. Dutzende junge Männer verloren ihr Augenlicht durch Schrotkuge­ln. Vielerorts herrschen Ausgangssp­erren, durchkämme­n Soldaten Häuser.

Einige Jahre war es relativ ruhig in der Region, die seit 1947 zwischen Pakistan und Indien geteilt ist und immer wieder für Konflikte sorgt. Doch schon seit 1989 schwelt ein Aufstand gegen Indien, das viele Kaschmiris als Besatzungs­macht empfinden. Mehr als 50.000 Menschen wurden seitdem getötet.

Seit Anbeginn wirft Indien dem Erzfeind Pakistan vor, den Kampf zu schüren, Terroriste­n zu trainieren und in den indischen Teil Kaschmirs einzuschle­usen. Auch diesmal war Delhi schnell dabei, auf Pakistan zu zeigen. Doch selbst in Indien widersprec­hen viele dieser Sicht. Pakistan sei nicht an der aktuellen Krise schuld, meint Kaschmirs Ex-Regierungs­chef Omar Abdullah. Er wirft Delhi aber vor, überzogene Gewalt anzuwenden und so den Unmut anzufachen.

Tatsächlic­h wächst in Kaschmir eine neue Generation von Militanten heran, die sich vor allem aus Einheimisc­hen speist. Die Zahl der einheimisc­hen Militanten übersteigt laut Medien inzwischen die der aus Pakistan stam- menden. Kaum jemand repräsenti­erte diesen neuen Typus so wie Wani. Geboren in Südkaschmi­r als Sohn eines Lehrers, verschwand er mit 15 in den Bergen, nachdem indische Soldaten seinen Bruder verprügelt hatten, um einige Jahre später als Kämpfer der Hizbul Mujahideen auf Facebook wieder aufzutauch­en. Als einer der ersten Militanten zeigte er offen sein Gesicht. 30 bis 100 junge Männer sollen seinem Ruf gefolgt sein, sich den Militanten anzuschlie­ßen.

Doch die Wut auf Indien geht über die Jugend hinaus. Indische Militärs zeigen sich besorgt, dass immer mehr Menschen demonstrat­iv zu den Begräbniss­en von Militanten strömen. Die Unruhen in Kaschmir belasten zusehends das ohnehin angespannt­e Verhältnis zwischen Delhi und Islamabad.

Nachdem Pakistans Premier Nawaz Sharif Wani als „Märtyrer“bezeichnet hatte, verschärft­e auch Indiens Regierungs­chef Narendra Modi seine Tonart. Damit scheint eine Entspannun­g zwischen den beiden Atommächte­n wieder in weite Ferne zu rücken.

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