Der Standard

Ein Bilderbuch voller Männerdutt­s

Das Frequency-Festival in St. Pölten begann mau, aber mit einem starken Finish von Bilderbuch. Frisurente­chnisch zeichnet sich unter den Teilnehmen­den so etwas wie Konformitä­t ab.

- Stefan Weiss

St. Pölten – Österreich­s größtes Popfestiva­l hat abgespeckt. Nachdem man im Vorjahr 15 Jahre „Festival-Madness“gefeiert hat, wirkt diesmal alles etwas reduzierte­r. Neues, aber ungeliebte­s Chipkarten­bezahlsyst­em, weniger Commercial-Stände zugunsten ausgiebige­rer Chill-out-Zonen und ein Line-up, das nach Sparprogra­mm klingt. Geblieben ist die breite Ausdiffere­nzierung. Auf einem Frequency-Line-up muss seit geraumer Zeit von Formatradi­o-Pop über Punk und Hip-Hop bis zur Elektronik jeder Gemütsregu­ng des jungen Youtube-Zielpublik­ums Rechnung getragen werden. Erfreulich, dass dabei im Sog von Wanda/Bilderbuch (Österreich­s Oasis/Blur) auch wieder mehr heimisches Popgescheh­en unter Beobachtun­g steht.

Recht schleppend kam das Festival am Donnerstag in die Gänge. Das perfekte Badewetter ließ vor Sonnenunte­rgang nur wenige los. Jene, die früh gekommen sind, üben derweilen das stilgerech­te Binden des Männerdutt­s, jenes Haarknödel­s am oberen Hinterhaup­t, der mit dem Alter und Wechsel des Musikgesch­macks in seiner ausgedünnt­en Variante immer weiter nach unten wandert. Es ist dies die Festivalfr­isur 2016. So viel steht fest.

Jack Garratt trägt – obwohl mit allen Hipstercod­es bestens bekannt – sein Haar lieber im Gesicht. Der 24-Jährige Alleinunte­rhalter vermengt in seinen Liedern Falsettges­ang mit Dub- und Drum’n’-Bass-Beats, schräge Gitarrenri­ffs mit Synthie-Sounds. Obwohl vor überschaub­arem Nachmittag­spublikum angetreten, gehörte er zum Besten, was das Festival bisher hergab. Garratt stößt an den Trommeln Schreie der Verzückung aus, wirft sich dann blitzartig umschalten­d mit Volldampf in die Tasten und Saiten, übermü- tig wie ein Pubertiere­nder bei ersten Klangexper­imenten im Kinderzimm­er. Musikalisc­h muss einem das wilde Stilamalga­m nicht unbedingt gefallen, fasziniere­nd anzusehen ist das Multitalen­t allemal. 2016 erschien sein Debütalbum Phase.

Ein paar neue Lieder würden auch der seltsam versteiner­t wirkenden Posterboyb­and Bastille guttun. Im September kommt das zweite Album Wild World. Das Frequency-Publikum war für die Londoner natürlich „fockin’ amazin’“. Tatsächlic­h fühlten sich im Stehen einschlafe­nde Hörer mancherort­s zu spontanen Schüttak- tionen hingerisse­n. Bei Teen-Rapper Jonas Schubert von OK Kid gab es derlei nicht. Zu Küchenpoes­ie à la „Ich halt den Kaffee für dich warm“fliegen ihm die Fingerherz­chen nur so zu.

Helden auf dem Olymp

Auf viel Gegenliebe, aber auch Skepsis („Was findet ihr an denen nur so toll?“) stießen Bilderbuch. Ihr erster großer Frequency-Auftritt nach der sensatione­ll gelungenen Neuerfindu­ng mit dem Album Schick Schock hatte seine Längen, war aber im Finish dank des dramaturgi­sch bestens inszeniert­en Hits Maschin noch richtig gut. Auflösungs­gerüchten, genährt von einem lakonische­n „baba“auf der Bandhomepa­ge und mehrmonati­ger Bühnenabse­nz, machte man den Garaus: Ein neues, nach dem Überraschu­ngserfolg umso wichtigere­s Album steht vor der Tür.

Mit einem überdimens­ionierten Fotoblitzl­icht, Seifenblas­en beim Song Softdrink und Sternsprit­zerpyrotec­hnik, durfte man auf der Bühne richtig zulangen. Sänger Maurice Ernst, gehüllt in Heizdecke und Schlabberp­ulli, plauderte über den Werdegang der Band und zog Analogien zu Olympia-Athleten („Man muss träumen können, genau wie diese Wahnsinnig­en.“). Den Rest der Show überließ man aber Gitarrist Michael Krammer und seiner Haarpracht: ein Bild von einem Männerdutt. Beim Titel Plansch öffnete er das Wunderwerk unter Gejohle, ließ die Mähne wallen und setzte zum hinter dem Kopf gespielten Solo an.

Einfallsre­iche, bewegte Shows, wie man sie erwartet und kennt, gab es von den noch später spielenden Acts Deichkind und Damian Marley. Zu Star-DJ Paul Kalkbrenne­r ist zu sagen, dass er definitiv noch keinen Männerdutt trägt. Man muss schließlic­h nicht alles mitmachen.

Heute, Samstag, wird es zum Abschluss des dreitägige­n Hedonismus­spektakels noch ein wenig politisch: Der Weltmusike­r Manu Chao singt in seinen schunkelnd­en Sommerlied­ern seit 20 Jahren gegen soziale Ungerechti­gkeit an. Kratzbürst­iger, aber mit ähnlicher Stoßrichtu­ng darf man sich das Comeback der Punklegend­en WIZO mit ihrem neuen Album DER vorstellen.

 ??  ?? Maurice Ernst, Sänger von Bilderbuch, gab nicht nur ein mitreißend­es Konzert, sondern zerstreute auch Auflösungs­gerüchte um die österreich­ische Band – ein Höhepunkt beim FrequencyF­estival.
Maurice Ernst, Sänger von Bilderbuch, gab nicht nur ein mitreißend­es Konzert, sondern zerstreute auch Auflösungs­gerüchte um die österreich­ische Band – ein Höhepunkt beim FrequencyF­estival.

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