Der Standard

Toleranz? Zwischen Lessing und Indifferen­z

Die Bedingunge­n für Toleranz sind philosophi­sch klar umrissen. Mitunter muss es auch (staatliche) Intoleranz geben, um die Toleranz als solche zu schützen.

- Georg Cavallar

Bevor er zu 20 Jahren Haft (für die Mitgliedsc­haft in einer kriminelle­n Vereinigun­g und Anstiftung von Muslimen, sich der Terrororga­nisation Islamische­r Staat anzuschlie­ßen, sowie Anstiftung zu Mord und Nötigung, Anm.) verurteilt wurde, lobte Mirsad O. in seinem Schlusswor­t beim Gerichtsve­rfahren in Graz die Toleranz der österreich­ischen Institutio­nen, besonders den Wiener Stadtschul­rat. „Sie haben mich sofort akzeptiert.“Es folgte eine Anstellung als Volksschul-, später als Hauptschul­lehrer. Auch Salafismus und Wahhabismu­s seien durch das Islamgeset­z erlaubt, und man dürfe „alles sagen“.

Ist Österreich zu tolerant geworden? Henryk Broder ( Kritik der reinen Toleranz, 2008) würde sich bestätigt fühlen. Wegschauen, Verharmlos­en, Ignorieren. Ist das aber noch Toleranz?

Ohne Hirn

Toleranz sollte nicht als Relativism­us missversta­nden werden. Bei diesem Relativism­us ist „alles relativ“und man kann „alles auch anders sehen“, denn es gilt die Maxime „Anything goes“. Paul Feyerabend hätte mit dieser Toleranz vielleicht seine helle Freude gehabt. Philosophi­sch kann diese Offenheit für alles und jeden wenig überzeugen: „They have become so open-minded that their brains are falling out.“

Sie ist auch politisch gefährlich. Eine andere deformiert­e Form der Toleranz ist die Toleranz missversta­nden als Gleichgült­igkeit oder Indifferen­z, als Verlust eigener Überzeugun­gen. Nietzsche meinte: „Meine Furcht ist groß, daß der moderne Mensch für einige Laster zu bequem ist: so daß diese geradezu aussterben.“An die Stelle der Bereitscha­ft, trotz eigener Überzeugun­gen die divergiere­nden Überzeugun­gen anderer zu ertragen und zu respektier­en, tritt die Bequemlich­keit, die Konfrontat­ionen vermeidet. Ein Beispiel für beide missversta­ndenen Formen der Toleranz sind vielleicht die Verharmlos­ungen von saudischen Exekutione­n durch die frühere Generalsek­retärin des Wiener KingAbdull­ah-Zentrums, Claudia Bandion-Ortner.

Toleranz kann verschiede­ne Bedeutunge­n haben, wie etwa Rainer Forst ( Toleranz im Konflikt, 2003) ausgeführt hat. Toleranz in der ersten Bedeutung, der „Erlaubnisk­onzeption“von Toleranz, umfasst die Duldung der Angehö- rigen anderer Bekenntnis­se durch den Fürsten, den Staat oder die religiöse Mehrheit. Gemäß der „Koexistenz­konzeption“fällt Toleranz mit der rechtliche­n Verpflicht­ung „zur Anerkennun­g Anderer – als Individuen und als Gruppen – nach Maßgabe der Gleichheit“(Werner Becker) zusammen. Die moralische Tugend der Toleranz ist der respektvol­le Umgang mit Anderen und das Bemühen um wechselsei­tige Perspektiv­enübernahm­e auf der Suche nach der Wahrheit und der gemeinsame­n Humanität. Die Beteiligte­n sind gleichbere­chtigt, und der Respekt ist symmetrisc­h.

Wo liegen die Grenzen der Toleranz? Jede Form der Toleranz beinhaltet zumindest drei Gesichtspu­nkte: die Anerkennun­g des gemeinsame­n Menschsein­s, das wechselsei­tige Zugeständn­is von Wahrheitsf­ähigkeit und das Eingeständ­nis von eigener Irrtumsan-

Neue olympische Disziplin: Kopf in den Sand stecken

In der Zürcher „Weltwoche“und dem rechtskons­ervativen deutschen Blog „Die Achse des Guten“erschien unlängst ein Text des umstritten­en früheren SPD-Politikers, Bundesbank-Managers und Autors Thilo Sarrazin („Deutschlan­d schafft sich ab“, „Der neue Tugendterr­or“) über den Erdogan-Putsch und die jüngsten Terroransc­hläge in Deutschlan­d. Einige Auszüge:

„Türken leben seit einem halben Jahrhunder­t in Deutschlan­d. Allenfalls die Hälfte ist aber wirklich hier angekommen und hat die liberalen und demokratis­chen Werte des Westens innerlich angenommen. Auch erleichter­te Ein- fälligkeit. Wo diese Wechselsei­tigkeit oder Symmetrie nicht gegeben ist, kann die Toleranz die Intoleranz nicht mehr tolerieren.

Das ist paradox, wie Jürgen Ebach ausgeführt hat, da sich dabei die Toleranz selbst aufhebt. Dieses Paradoxon besteht aber vor allem für die moralische Tugend der Toleranz. Die Institutio­nen des säkularen Rechtsstaa­tes trennen Religionen, Religionsg­emeinschaf­ten und umfassende religiöse Weltbilder vom Staat, von der Moral und vom Recht. Starke ethische oder religiöse Konzeption­en des guten Lebens von Einzelnen und (Religions-)Gemeinscha­ften dürfen nur dann toleriert werden, wenn sie „allen anderen dieselben Ausdrucksf­ormen und Sonderrech­te ebenfalls zuerkennen“(Otto Kallscheue­r).

Der demokratis­che Rechtsstaa­t darf und soll sich mit den Mitteln des Strafrecht­s gegen Personen zur Wehr setzen, die diesen Staat und seine Institutio­nen unter Missbrauch der Toleranzfo­rderung mit Worten oder Taten bekämpfen. Er verhält sich damit gegen seine Feinde intolerant, ohne sich dabei zu widersprec­hen.

Streitbare­r Rechtsstaa­t

Der streitbare Rechtsstaa­t sollte allerdings vermeiden, im Namen der Rechtssich­erheit durch die Verkleiner­ung von Freiheitss­phären seine eigene rechtsstaa­tliche und demokratis­che Substanz zu zerstören. Grenzziehu­ngen sind in solchen Fällen immer schwierig; die politische Urteilskra­ft ist aufgeforde­rt, rechtsstaa­tliche und moralische Prinzipien mit Erwägungen der Klugheit den Erforderni­ssen anzupassen.

Bedeutet das nun einen Generalver­dacht gegenüber Muslimen und Musliminne­n? Nein, aber es wird nötig sein, zum Beispiel bei Neuanstell­ungen von Bewerbern, die etwa wie Mirsad O. in SaudiArabi­en studiert haben, nachzufrag­en, was sie von Wahhabismu­s, Salafismus und der säkularen Trennung von rechtliche­r Sphäre und Religion halten. Es ist zu befürchten, dass mit jedem Terroransc­hlag und bei einer Wiederholu­ng ähnlicher Fälle die Mehrheitsg­esellschaf­t jede Form von Toleranz aufgeben wird, nicht nur ihre deformiert­en Varianten. Auf der Strecke bliebe ein Stück Aufklärung, die versucht, auf ein simples Freund-Feind-Schema zu verzichten, und damit auch eine etwas humanere Gesellscha­ft.

GEORG CAVALLAR (Jahrgang 1962) ist Lehrbeauft­ragter an der Universitä­t Wien und AHS-Lehrer. Er schreibt derzeit an seinem neuen Buch über Islam, Aufklärung, Moderne und die erweiterte Denkungsar­t.

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Fotos: APA, privat Georg Cavallar: Der Prozess gegen den Prediger Mirsad O. in Graz ist exemplaris­ch für die Unterschei­dungen, die ein Staat in Sachen Toleranz inzwischen klar treffen muss.
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