Utopie versus Realpolitik
Ist es visionäre Führungskraft oder doch nur bockige Realitätsverweigerung, die Jeremy Corbyn da an den Tag legt? Der Vorsitzende der britischen Labour-Partei geht mit einer schweren Hypothek in die Mitgliederabstimmung, nachdem ihm bereits mehr als 80 Prozent der eigenen Parlamentsfraktion die Gefolgschaft aufgekündigt haben. Beim Parteitag Ende September wird dann feststehen, ob auch die Basis Corbyn fallenlassen will. Eher nein.
Im wahrscheinlichen Fall, dass Corbyn Partei- und Oppositionschef bleibt, wäre dieser gut beraten, dafür zu sorgen, dass die Lager- und Richtungskämpfe möglichst rasch beendet werden. Sonst wird die konservative Premierministerin Theresa May bald einmal auf die Idee kommen, Neuwahlen vom Zaun zu brechen. Diese würden Labour wohl desaströs treffen – trotz eines Wahlgegners, der das Brexit-Chaos hauptsächlich zu verantworten hat.
Auf seinem von vielen als unzeitgemäß bezeichneten extremen Linkskurs wird Corbyn trotz seiner wahrscheinlichen Wiederwahl nicht mehr segeln können. Sein Schiff – sprich: die Partei – würde bald zerbersten, untergehen. Corbyn wird also sein Partei- und Oppositionsamt nicht nur allein auf die persönliche Überzeugung und den Willen der Parteibasis auszurichten haben, sondern auch – und zwar mehr als bisher – auf die Gegebenheiten der Realpolitik. Anders wird die Labour-Partei keine gesamtgesellschaftliche Relevanz behalten können.